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Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band.

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müssen, Norwegen gewissermaßen als eine schwedische Provinz betrachtet und
kaum ahnt, daß Norwegen ein selbständiges Nicias ist, das nur durch ein
einziges Band -- den König -- mit Schweden verknüpft ist, dem wird es
schwer werden, die Norwegische Verfassung so weit zu durchschauen, um eine
Erklärung des Wortes Staatsrathsfrage geben zu können.

Zum Verständniß diene Folgendes: Die Verfassung Norwegens könnte
eine republikanische mit monarchischer Spitze genannt werden. Die einzigen
politischen Factoren sind der Storthing auf der einen Seite, auf der andern
der König. Der Storthing bildet die alleinige Vertretung des Norwegischen
Volkes. Seinen Beschlüssen kann der König allerdings die Königliche Sanction
verweigern, gehen sie aber dreimal in auf einander folgenden Wahlperioden
durch, so bleiben sie auch ohne Königliche Sanction gesetzeskräftig. Der König
hat also den Beschlüssen des Storthings gegenüber nur ein suspensives, kein
absolutes Veto.

Das Ministerium des Königs bildet der sog. Staatsrath, welcher die
gesammte innere Verwaltung leitet und in Stockholm, wo der König für ge¬
wöhnlich residirt, durch zwei Mitglieder vertreten ist. Bisher nahmen die Mit¬
glieder des Staatsraths nicht an den, Debatten des Storthings Theil. Sie
sandten die einzelnen dem Storthing zu machenden Vorlagen ein, und es
wurde über dieselben verhandelt, ohne daß je einer der Staatsräthe in die
Lage versetzt wurde, auf eine directe Anfrage oder eine Jnterpellation im
Storthing Rede und Antwort stehen zu müssen.

Im Jahre 1872 ist aber im Storthing der Antrag eingebracht worden,
die Staatsräthe sollten berechtigt sein, an den Verhandlungen des Storthings
Theil zu nehmen und in demselben erscheinen dürfen, und in der diesjährigen
Session ist der Antrag zum zweiten Male mit genügender Majorität durch¬
gegangen.

Diese Frage nun, ob die Minister das Recht haben sollen, im
Storthing zu erscheinen und an den Debatten Theil zu nehmen,
nennt man die Staatsrathsfrage.

An und für sich scheint der Antrag auf Erscheinen der Staatsräthe im
Storthing ganz gerechtfertigt zu sein und nur dem parlamentarischen Brauch
in andern Ländern zu entsprechen. Trotzdem erhob sich aber eine große
Opposition dagegen und man muß anerkennen, daß diese Opposition zum
Theil wenigstens sehr gerechtfertigt ist. - Da der Storthing die einzige Kam¬
mer ist, welche gesetzgebende Gewalt hat, und ihm nicht durch ein anderes
Haus eventuell das Gegengewicht gehalten werden kann, würde er auf diese
Weise bedeutend mehr politische Macht in sich vereinigen, als er bisher gehabt
hat und dadurch das bisherige Verhältniß der politischen Factoren im Lande
verändern. Der Storthing würde dadurch, daß die Minister an seinen


GvmztwK" l. 1875. 23

müssen, Norwegen gewissermaßen als eine schwedische Provinz betrachtet und
kaum ahnt, daß Norwegen ein selbständiges Nicias ist, das nur durch ein
einziges Band — den König — mit Schweden verknüpft ist, dem wird es
schwer werden, die Norwegische Verfassung so weit zu durchschauen, um eine
Erklärung des Wortes Staatsrathsfrage geben zu können.

Zum Verständniß diene Folgendes: Die Verfassung Norwegens könnte
eine republikanische mit monarchischer Spitze genannt werden. Die einzigen
politischen Factoren sind der Storthing auf der einen Seite, auf der andern
der König. Der Storthing bildet die alleinige Vertretung des Norwegischen
Volkes. Seinen Beschlüssen kann der König allerdings die Königliche Sanction
verweigern, gehen sie aber dreimal in auf einander folgenden Wahlperioden
durch, so bleiben sie auch ohne Königliche Sanction gesetzeskräftig. Der König
hat also den Beschlüssen des Storthings gegenüber nur ein suspensives, kein
absolutes Veto.

Das Ministerium des Königs bildet der sog. Staatsrath, welcher die
gesammte innere Verwaltung leitet und in Stockholm, wo der König für ge¬
wöhnlich residirt, durch zwei Mitglieder vertreten ist. Bisher nahmen die Mit¬
glieder des Staatsraths nicht an den, Debatten des Storthings Theil. Sie
sandten die einzelnen dem Storthing zu machenden Vorlagen ein, und es
wurde über dieselben verhandelt, ohne daß je einer der Staatsräthe in die
Lage versetzt wurde, auf eine directe Anfrage oder eine Jnterpellation im
Storthing Rede und Antwort stehen zu müssen.

Im Jahre 1872 ist aber im Storthing der Antrag eingebracht worden,
die Staatsräthe sollten berechtigt sein, an den Verhandlungen des Storthings
Theil zu nehmen und in demselben erscheinen dürfen, und in der diesjährigen
Session ist der Antrag zum zweiten Male mit genügender Majorität durch¬
gegangen.

Diese Frage nun, ob die Minister das Recht haben sollen, im
Storthing zu erscheinen und an den Debatten Theil zu nehmen,
nennt man die Staatsrathsfrage.

An und für sich scheint der Antrag auf Erscheinen der Staatsräthe im
Storthing ganz gerechtfertigt zu sein und nur dem parlamentarischen Brauch
in andern Ländern zu entsprechen. Trotzdem erhob sich aber eine große
Opposition dagegen und man muß anerkennen, daß diese Opposition zum
Theil wenigstens sehr gerechtfertigt ist. - Da der Storthing die einzige Kam¬
mer ist, welche gesetzgebende Gewalt hat, und ihm nicht durch ein anderes
Haus eventuell das Gegengewicht gehalten werden kann, würde er auf diese
Weise bedeutend mehr politische Macht in sich vereinigen, als er bisher gehabt
hat und dadurch das bisherige Verhältniß der politischen Factoren im Lande
verändern. Der Storthing würde dadurch, daß die Minister an seinen


GvmztwK» l. 1875. 23
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 34, 1875, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341821_134957/185>, abgerufen am 23.07.2024.