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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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zichtigen durfte, ohne den mindesten sachlichen Grund anzugeben. Sind das
die Rechte der Vertheidigung? Dann sind wir ja wohl nächstens in Amerika,
wo jeder ehrenhafte Mensch um jeden Preis die Berührung mit den Gerichten
meidet, um nicht unter der burlesken Impertinenz der Parteivertreter zu
leiden; wo er sich lieber mit den Verbrechern abfindet, um nur nicht in Be¬
rührung zu kommen mit den Advokaten.

Nach der formellen Haltung der Verhandlungen fassen wir zunächst
einige allgemeine materielle Momente der Vertheidigung ins Auge. Da wir
die Berührung mit der Aufgabe des Richters meiden, lassen wir die Frage
nach dem Verhältniß zu dem bestehenden Recht bei Seite. Es kommen aber
in jedem Prozeß, und in diesem ganz besonders, zahlreiche Dinge vor, welche
nicht nach juristischen, sondern nach den Begriffen des Lebens und der herr¬
schenden Cultur zu beurtheilen sind, oder auch nach den technischen Begriffen
anderer Berufe. Der erste Vertheidiger war es, der mit einem solchen Kreis
von Begriffen sich ganz besonders zu thun machte, nämlich mit der Technik
des diplomatischen Dienstes. Er that es mit einer Selbstzufriedenheit und
einer zur Schau getragenen Ueberlegenheit, die einen überwältigenden Contrast
bilden gegen eine Logik, die an Abraham a Sancta Clara erinnert. Diplo¬
matische Aktenstücke sind nämlich, so wurde ausgeführt, keine Rechtsurkun¬
den, weil sie historische Urkunden sind! Wir bemerken, daß, wenn dieser
haarsträubende Schluß nicht dem Vertheidiger angehören, sondern der nothge¬
drungen mehr oder minder flüchtigen Berichterstattung zur Last fallen sollte, es
doch jedenfalls unbegreiflich bleibt, was die breite Auslassung über die historische
Urkunde sollte, wenn sie nicht etwa ein bloßes Mittel zur selbstgefälligen Aus¬
stellung trivialer Weisheit war. Für die Kreise der Bildung giebt es wohl nichts
Einfacheres als den Unterschied dieser beiden Begriffe. Eine historische Urkunde
ist jedes schriftliche und im weitesten Sinn jedes gegenständliche Erkenntni߬
mittel für den Gang der Begebenheiten und für den Stand der Cultur in
einer Epoche. Will man den Begriff der Rechtsurkunde abgrenzen, so hat
man nicht nöthig, bis an die äußersten Grenzen des Sprachgebrauchs zu
gehen, bis zu welchen derselbe die Anwendung des Wortes Urkunde erstreckt.
Eine Rechtsurkunde ist im engen Sinn das formelle Zeugniß für das Ganze
oder den Theil eines Rechtsaktes. Wie weit dieser Begriff im juristischen
Sinn ausgedehnt werden muß, darüber gehen die wissenschaftlichen Ansichten
ja auseinander, und ob Erlasse und Berichte des diplomatischen Dienstes
unter den juristisch-technischen Begriff der Urkunde zu befassen sind, darauf
wollen wir, den selbstgesteckten Grenzen gemäß, nicht eingehen. Im Sinne
des gebildeten Sprachgebrauchs sind sie es aber, wie wir sogleich nachweisen
wollen. Denn wenn zur Urkunde im engsten Sinn ein Schriftstück nur
werden kann durch die Tendenz der Ausfertigung, so kommt dieser Begriff


zichtigen durfte, ohne den mindesten sachlichen Grund anzugeben. Sind das
die Rechte der Vertheidigung? Dann sind wir ja wohl nächstens in Amerika,
wo jeder ehrenhafte Mensch um jeden Preis die Berührung mit den Gerichten
meidet, um nicht unter der burlesken Impertinenz der Parteivertreter zu
leiden; wo er sich lieber mit den Verbrechern abfindet, um nur nicht in Be¬
rührung zu kommen mit den Advokaten.

Nach der formellen Haltung der Verhandlungen fassen wir zunächst
einige allgemeine materielle Momente der Vertheidigung ins Auge. Da wir
die Berührung mit der Aufgabe des Richters meiden, lassen wir die Frage
nach dem Verhältniß zu dem bestehenden Recht bei Seite. Es kommen aber
in jedem Prozeß, und in diesem ganz besonders, zahlreiche Dinge vor, welche
nicht nach juristischen, sondern nach den Begriffen des Lebens und der herr¬
schenden Cultur zu beurtheilen sind, oder auch nach den technischen Begriffen
anderer Berufe. Der erste Vertheidiger war es, der mit einem solchen Kreis
von Begriffen sich ganz besonders zu thun machte, nämlich mit der Technik
des diplomatischen Dienstes. Er that es mit einer Selbstzufriedenheit und
einer zur Schau getragenen Ueberlegenheit, die einen überwältigenden Contrast
bilden gegen eine Logik, die an Abraham a Sancta Clara erinnert. Diplo¬
matische Aktenstücke sind nämlich, so wurde ausgeführt, keine Rechtsurkun¬
den, weil sie historische Urkunden sind! Wir bemerken, daß, wenn dieser
haarsträubende Schluß nicht dem Vertheidiger angehören, sondern der nothge¬
drungen mehr oder minder flüchtigen Berichterstattung zur Last fallen sollte, es
doch jedenfalls unbegreiflich bleibt, was die breite Auslassung über die historische
Urkunde sollte, wenn sie nicht etwa ein bloßes Mittel zur selbstgefälligen Aus¬
stellung trivialer Weisheit war. Für die Kreise der Bildung giebt es wohl nichts
Einfacheres als den Unterschied dieser beiden Begriffe. Eine historische Urkunde
ist jedes schriftliche und im weitesten Sinn jedes gegenständliche Erkenntni߬
mittel für den Gang der Begebenheiten und für den Stand der Cultur in
einer Epoche. Will man den Begriff der Rechtsurkunde abgrenzen, so hat
man nicht nöthig, bis an die äußersten Grenzen des Sprachgebrauchs zu
gehen, bis zu welchen derselbe die Anwendung des Wortes Urkunde erstreckt.
Eine Rechtsurkunde ist im engen Sinn das formelle Zeugniß für das Ganze
oder den Theil eines Rechtsaktes. Wie weit dieser Begriff im juristischen
Sinn ausgedehnt werden muß, darüber gehen die wissenschaftlichen Ansichten
ja auseinander, und ob Erlasse und Berichte des diplomatischen Dienstes
unter den juristisch-technischen Begriff der Urkunde zu befassen sind, darauf
wollen wir, den selbstgesteckten Grenzen gemäß, nicht eingehen. Im Sinne
des gebildeten Sprachgebrauchs sind sie es aber, wie wir sogleich nachweisen
wollen. Denn wenn zur Urkunde im engsten Sinn ein Schriftstück nur
werden kann durch die Tendenz der Ausfertigung, so kommt dieser Begriff


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/514>, abgerufen am 27.07.2024.