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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Nomaden kehren sich wenig an die russischen Verträge und an den Khan von
Khiwa, der jetzt erst recht nicht im Stande ist, sie in Ordnung zu halten,
und bald gegen seine sogenannten Unterthanen die Hülfe der Russen wird in
Anspruch nehmen müssen. Diesen aber kann es nicht gleichgültig sein, ob in
den Gebieten, die sie dauernd pacificirt zu haben meinten, das alte Unwesen
fortdauert oder nicht, abgesehen davon, daß ihre natürlichen Grenzen nach
dem Stande ihrer Macht eigentlich erst bei den Gebirgen von Chorassan
liegen. Die russischen Unternehmungen in Turkestan haben von jeher den
Beifall fast der ganzen gebildeten Welt für sich gehabt. Rußland, mag es
auch vornehmlich seine territoriale Vergrößerung und Machtstellung in Mittel¬
asien dabei im Auge haben, es vertritt in jenen Gegenden die Interessen der
Civilisation und Menschlichkeit gegenüber einer barbarischen Bevölkerung und
dient den Wissenschaften, die es für seine Zwecke gebraucht. Nur England
vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen und hütet mit mißtrauischen
Blicken die Grenzen von Afghanistan, wie sie durch die Verhandlungen vom
Winter 1872/73, die der jetzige neue Botschafter, Graf Schuwalow, so ge¬
schickt leitete, festgesetzt worden sind.

Diesmal sind es die räuberischen Nomaden vom Stamm Telle, dem
wildesten und gefährlichsten im ganzen südlichen Turan, gegen die vielleicht
eins neue Expedition oder Rekognoscirung im größeren Maßstabe nöthig
wird. Ihr Uebermuth wird von Tage zu Tage größer, da die Ohnmacht
des Khans am Tage ist, und der Czar. denken sie, ist weit. Sie senden ihre
Horden in Stärke von mehreren hundert Mann bis unter die Mauern von
Khiwa und plündern ohne Rücksicht auf die Nähe der russischen Posten die
friedlichen und ansässigen Stämme der Ann-Niederung. Nach den jüngsten
Nachrichten scheint es sogar, als ob sie vor einem bewaffneten Uebertritt aus
das rechte Ufer nicht zurückschenken, woraus hervorgeht, daß das Prestige der
russischen Waffen bei ihnen doch nicht so groß ist, als es nach der letzten,
so brillant gelungenen Expedition zu erwarten wäre, Rußland aber darf sich
diesen Barbaren gegenüber auch nicht das Geringste gefallen lassen und sich
nie mit einem halben Erfolge begnügen, wenn es sein Ansehen nicht aufs
äußerste gefährden will. Unter diesen Umständen lenken wir die Aufmerksam¬
keit unserer Leser von neuem auf jenes Wüstenland und zwar auf den noch
am mindesten durchforschten Theil desselben, das Gebiet zwischen Ann-Darja
und Kaspisee, indem wir, was über die Topographie und Statistik dieser
Gegenden bekannr geworden ist, in der Kürze mittheilen.

Die Telle schweifen südlich vom Aralsee und der Oase Khiwa bis zu
den Abhängen des Elburs und den Grenzen des Emirs von Herat, die sie
sich bei ihren häufigen Raubzügen zu überschreiten nicht scheuen. Sie sind
Sunniten, wie alle turkmenischen Stämme, und als solche geschworene Feinde


Nomaden kehren sich wenig an die russischen Verträge und an den Khan von
Khiwa, der jetzt erst recht nicht im Stande ist, sie in Ordnung zu halten,
und bald gegen seine sogenannten Unterthanen die Hülfe der Russen wird in
Anspruch nehmen müssen. Diesen aber kann es nicht gleichgültig sein, ob in
den Gebieten, die sie dauernd pacificirt zu haben meinten, das alte Unwesen
fortdauert oder nicht, abgesehen davon, daß ihre natürlichen Grenzen nach
dem Stande ihrer Macht eigentlich erst bei den Gebirgen von Chorassan
liegen. Die russischen Unternehmungen in Turkestan haben von jeher den
Beifall fast der ganzen gebildeten Welt für sich gehabt. Rußland, mag es
auch vornehmlich seine territoriale Vergrößerung und Machtstellung in Mittel¬
asien dabei im Auge haben, es vertritt in jenen Gegenden die Interessen der
Civilisation und Menschlichkeit gegenüber einer barbarischen Bevölkerung und
dient den Wissenschaften, die es für seine Zwecke gebraucht. Nur England
vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen und hütet mit mißtrauischen
Blicken die Grenzen von Afghanistan, wie sie durch die Verhandlungen vom
Winter 1872/73, die der jetzige neue Botschafter, Graf Schuwalow, so ge¬
schickt leitete, festgesetzt worden sind.

Diesmal sind es die räuberischen Nomaden vom Stamm Telle, dem
wildesten und gefährlichsten im ganzen südlichen Turan, gegen die vielleicht
eins neue Expedition oder Rekognoscirung im größeren Maßstabe nöthig
wird. Ihr Uebermuth wird von Tage zu Tage größer, da die Ohnmacht
des Khans am Tage ist, und der Czar. denken sie, ist weit. Sie senden ihre
Horden in Stärke von mehreren hundert Mann bis unter die Mauern von
Khiwa und plündern ohne Rücksicht auf die Nähe der russischen Posten die
friedlichen und ansässigen Stämme der Ann-Niederung. Nach den jüngsten
Nachrichten scheint es sogar, als ob sie vor einem bewaffneten Uebertritt aus
das rechte Ufer nicht zurückschenken, woraus hervorgeht, daß das Prestige der
russischen Waffen bei ihnen doch nicht so groß ist, als es nach der letzten,
so brillant gelungenen Expedition zu erwarten wäre, Rußland aber darf sich
diesen Barbaren gegenüber auch nicht das Geringste gefallen lassen und sich
nie mit einem halben Erfolge begnügen, wenn es sein Ansehen nicht aufs
äußerste gefährden will. Unter diesen Umständen lenken wir die Aufmerksam¬
keit unserer Leser von neuem auf jenes Wüstenland und zwar auf den noch
am mindesten durchforschten Theil desselben, das Gebiet zwischen Ann-Darja
und Kaspisee, indem wir, was über die Topographie und Statistik dieser
Gegenden bekannr geworden ist, in der Kürze mittheilen.

Die Telle schweifen südlich vom Aralsee und der Oase Khiwa bis zu
den Abhängen des Elburs und den Grenzen des Emirs von Herat, die sie
sich bei ihren häufigen Raubzügen zu überschreiten nicht scheuen. Sie sind
Sunniten, wie alle turkmenischen Stämme, und als solche geschworene Feinde


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[0506] Nomaden kehren sich wenig an die russischen Verträge und an den Khan von Khiwa, der jetzt erst recht nicht im Stande ist, sie in Ordnung zu halten, und bald gegen seine sogenannten Unterthanen die Hülfe der Russen wird in Anspruch nehmen müssen. Diesen aber kann es nicht gleichgültig sein, ob in den Gebieten, die sie dauernd pacificirt zu haben meinten, das alte Unwesen fortdauert oder nicht, abgesehen davon, daß ihre natürlichen Grenzen nach dem Stande ihrer Macht eigentlich erst bei den Gebirgen von Chorassan liegen. Die russischen Unternehmungen in Turkestan haben von jeher den Beifall fast der ganzen gebildeten Welt für sich gehabt. Rußland, mag es auch vornehmlich seine territoriale Vergrößerung und Machtstellung in Mittel¬ asien dabei im Auge haben, es vertritt in jenen Gegenden die Interessen der Civilisation und Menschlichkeit gegenüber einer barbarischen Bevölkerung und dient den Wissenschaften, die es für seine Zwecke gebraucht. Nur England vermag sich dieser Auffassung nicht anzuschließen und hütet mit mißtrauischen Blicken die Grenzen von Afghanistan, wie sie durch die Verhandlungen vom Winter 1872/73, die der jetzige neue Botschafter, Graf Schuwalow, so ge¬ schickt leitete, festgesetzt worden sind. Diesmal sind es die räuberischen Nomaden vom Stamm Telle, dem wildesten und gefährlichsten im ganzen südlichen Turan, gegen die vielleicht eins neue Expedition oder Rekognoscirung im größeren Maßstabe nöthig wird. Ihr Uebermuth wird von Tage zu Tage größer, da die Ohnmacht des Khans am Tage ist, und der Czar. denken sie, ist weit. Sie senden ihre Horden in Stärke von mehreren hundert Mann bis unter die Mauern von Khiwa und plündern ohne Rücksicht auf die Nähe der russischen Posten die friedlichen und ansässigen Stämme der Ann-Niederung. Nach den jüngsten Nachrichten scheint es sogar, als ob sie vor einem bewaffneten Uebertritt aus das rechte Ufer nicht zurückschenken, woraus hervorgeht, daß das Prestige der russischen Waffen bei ihnen doch nicht so groß ist, als es nach der letzten, so brillant gelungenen Expedition zu erwarten wäre, Rußland aber darf sich diesen Barbaren gegenüber auch nicht das Geringste gefallen lassen und sich nie mit einem halben Erfolge begnügen, wenn es sein Ansehen nicht aufs äußerste gefährden will. Unter diesen Umständen lenken wir die Aufmerksam¬ keit unserer Leser von neuem auf jenes Wüstenland und zwar auf den noch am mindesten durchforschten Theil desselben, das Gebiet zwischen Ann-Darja und Kaspisee, indem wir, was über die Topographie und Statistik dieser Gegenden bekannr geworden ist, in der Kürze mittheilen. Die Telle schweifen südlich vom Aralsee und der Oase Khiwa bis zu den Abhängen des Elburs und den Grenzen des Emirs von Herat, die sie sich bei ihren häufigen Raubzügen zu überschreiten nicht scheuen. Sie sind Sunniten, wie alle turkmenischen Stämme, und als solche geschworene Feinde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/506>, abgerufen am 27.07.2024.