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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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That nur bei einer völligen Verkennung der wirthschaftlich-privatrechtlichen
Entwickelungsperiode des Mittelalters so breiten Glauben gewinnen konnte.
"Niemals können die für das Verkehrsleben bestimmten Rechtsnormen wahr¬
haft erklärt und begründet werden", sagt Endemann, "ohne die in der Praxis
des Verkehrs maßgebenden Ansichten zu Rathe zu ziehen, deren Summe wissen¬
schaftlich begriffen jene Philosophie der materiellen Güter darstellt, welche als
Volkswirthschaftslehre bezeichnet zu werden Pflegt. Selbst da, wo die Rechts¬
lehre in schematischen Behagen sich möglichst in sich selbst abschloß, wurde
sie unbewußt von den Strömungen dieser Ansichten beeinflußt. Der Satz,
daß Rechts- und Wirthschaftslehre solchergestalt in untrennbaren Zusammen¬
hange stehen, bewahrheitet sich namentlich, wo es gilt, die Entwickelung des
mittelalterlichen Verkehrsrechtes zu erforschen. Wie sehr solche Erforschung
Bedürfniß ist, erhellt leicht. Das mittelalterliche, romanisch-kano¬
nische Recht bildet die nächste Vorstufe des gegenwärtigen.
Aller Eiser um die richtige Erkenntniß des altrömischen Rechts, um die volle
Einsicht in den Gang seiner Entwickelung bis zu Justinian und bis zu den
Glossatoren zu gewinnen, bleibt Stückwerk, so lange man sich nicht klar macht,
welche Umwandlungen seitdem eingetreten waren, als in umgewandelter Gestalt
das römische Recht auch in Deutschland aufgenommen wurde. Niemand kann
heutzutage an das Märchen einer Reception des römischen Rechts in dem Bestände
glauben, den erst Jahrzehnte hindurch fortgesetzte Arbeit unter dem Schütte
der Vergangenheit auszugraben begonnen hat. Nicht das römische, son¬
dern das romanische, längst vorher von dem Einfluß der ka¬
nonischen Gesetzgebung und Doctrin durchdrungene Recht
haben wir thatsächlich recipirt. Wer also mit den wahren historischen
Thatsachen rechnen, die Entwicklung des Rechtes bis zur Gegenwart nicht
nach theoretischen Fictionen, sondern nach dem wirkliche'" Verlauf kennen
will, für den ist es unmöglich, über die breite Lücke hinwegzuspringen, welche
die mittelalterliche Dogmengeschichte des Rechtes zwischen dem altrömischen
und dem modernen Recht darstellt."

Es ist nicht Endemann's Absicht gewesen, das gesammte Verkehrsrecht
des Mittelalters und dessen Entwickelung zu schildern, eine das gesammte
Verkehrsrecht umfassende Geschichte der mittelalterlichen Dogmatik zu liefern.
Eine solche Aufgabe würde in der That der Zeit nach an einem doppelten
Hindernisse scheitern. Das ungeheuere Material liegt noch fast chaotisch durch¬
einander, nicht einmal die Quellennachweise erscheinen irgendwie erschöpfend
abgeschlossen und geordnet. Und sodann widerstrebt der Zustand der mittel¬
alterlichen Doctrin selbst wie kaum eine andere den heutigen Anforderungen
an eine systematisch zusammenhängende Darlegung. Man mag noch so hoch
denken von dem wunderbar scharfsinnigen und geschlossenen Gefüge des kano-


Grenzbotm IV. 1874. 62

That nur bei einer völligen Verkennung der wirthschaftlich-privatrechtlichen
Entwickelungsperiode des Mittelalters so breiten Glauben gewinnen konnte.
„Niemals können die für das Verkehrsleben bestimmten Rechtsnormen wahr¬
haft erklärt und begründet werden", sagt Endemann, „ohne die in der Praxis
des Verkehrs maßgebenden Ansichten zu Rathe zu ziehen, deren Summe wissen¬
schaftlich begriffen jene Philosophie der materiellen Güter darstellt, welche als
Volkswirthschaftslehre bezeichnet zu werden Pflegt. Selbst da, wo die Rechts¬
lehre in schematischen Behagen sich möglichst in sich selbst abschloß, wurde
sie unbewußt von den Strömungen dieser Ansichten beeinflußt. Der Satz,
daß Rechts- und Wirthschaftslehre solchergestalt in untrennbaren Zusammen¬
hange stehen, bewahrheitet sich namentlich, wo es gilt, die Entwickelung des
mittelalterlichen Verkehrsrechtes zu erforschen. Wie sehr solche Erforschung
Bedürfniß ist, erhellt leicht. Das mittelalterliche, romanisch-kano¬
nische Recht bildet die nächste Vorstufe des gegenwärtigen.
Aller Eiser um die richtige Erkenntniß des altrömischen Rechts, um die volle
Einsicht in den Gang seiner Entwickelung bis zu Justinian und bis zu den
Glossatoren zu gewinnen, bleibt Stückwerk, so lange man sich nicht klar macht,
welche Umwandlungen seitdem eingetreten waren, als in umgewandelter Gestalt
das römische Recht auch in Deutschland aufgenommen wurde. Niemand kann
heutzutage an das Märchen einer Reception des römischen Rechts in dem Bestände
glauben, den erst Jahrzehnte hindurch fortgesetzte Arbeit unter dem Schütte
der Vergangenheit auszugraben begonnen hat. Nicht das römische, son¬
dern das romanische, längst vorher von dem Einfluß der ka¬
nonischen Gesetzgebung und Doctrin durchdrungene Recht
haben wir thatsächlich recipirt. Wer also mit den wahren historischen
Thatsachen rechnen, die Entwicklung des Rechtes bis zur Gegenwart nicht
nach theoretischen Fictionen, sondern nach dem wirkliche'» Verlauf kennen
will, für den ist es unmöglich, über die breite Lücke hinwegzuspringen, welche
die mittelalterliche Dogmengeschichte des Rechtes zwischen dem altrömischen
und dem modernen Recht darstellt."

Es ist nicht Endemann's Absicht gewesen, das gesammte Verkehrsrecht
des Mittelalters und dessen Entwickelung zu schildern, eine das gesammte
Verkehrsrecht umfassende Geschichte der mittelalterlichen Dogmatik zu liefern.
Eine solche Aufgabe würde in der That der Zeit nach an einem doppelten
Hindernisse scheitern. Das ungeheuere Material liegt noch fast chaotisch durch¬
einander, nicht einmal die Quellennachweise erscheinen irgendwie erschöpfend
abgeschlossen und geordnet. Und sodann widerstrebt der Zustand der mittel¬
alterlichen Doctrin selbst wie kaum eine andere den heutigen Anforderungen
an eine systematisch zusammenhängende Darlegung. Man mag noch so hoch
denken von dem wunderbar scharfsinnigen und geschlossenen Gefüge des kano-


Grenzbotm IV. 1874. 62
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/493>, abgerufen am 27.07.2024.