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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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die früheren Aeußerungen Modificirendes gesagt, denn schon am 16. April
1869 sagte er dem Abgeordneten Laster, daß es ihm auf ein halb Dutzend
Ministertitel nicht ankomme, wenn in dem verlangten Gesammtministerium
dem Kanzler die Stellung des englischen Premierministers, des ersten Schatz¬
lords, wie er dort heißt, eingeräumt werde. Diesmal gestand er die Noth¬
wendigkeit unumwunden zu, für die großen Geschäftszweige des Reiches be¬
sondere Aemter mit eigenen Vorständen zu bilden, die auch den Namen
"Minister" führen könnten. Aber er verlangte wiederum, wie früher, den
maßgebenden Einfluß des Kanzlers, er bekämpfte wiederum, wie früher, den
Schluß von der Unmöglichkeit der allseitigen technischen Verantwortlichkeit
des Kanzlers auf die Unmöglichkeit der umfassenden moralischen Verantwort¬
lichkeit desselben. Dadurch erklärte sich nun der treffliche Laster äußerst be¬
ruhigt, befriedigt und beinah beglückt. Wir glauben aber der Sache einen
Dienst zu leisten, wenn wir ohne Scheu und mit Nachdruck darauf hinweisen,
daß diese schöne Eintracht ganz und gar auf einem Mißverständniß beruht.
Selbst Laster und ein Theil der Nationalliberalen kann sich nichts Schöneres
denken, als das englische parlamentarische Ministerium mit seinem maßgeben¬
den Chef, und sie möchten dem Kanzler um den Hals fallen, daß er ihnen
die Freude macht, sich zu demselben Ziel zu bekennen. Wenn die Herren
aber sich nicht zu schnell der Freude überlassen und dafür recht genau zuhören
wollten, würden sie finden, daß der Kanzler doch ein ganz anderes Ziel im
Auge hat. Er seinerseits hat es an der nöthigen Deutlichkeit nicht fehlen
lassen. Der Unterschied, der durchschlagende Unterschied, liegt in der Art,
wie der maßgebende Einfluß des leitenden Ministers gesichert werden soll.
Der Kanzler sagte am 1. December: "Es giebt nur zwei Wege. Entweder
es muß dem Kanzler gegen seine Collegen ein Entlassungsrecht eingeräumt
Werden, und das verträgt sich nicht wohl mit der Monarchie; oder der Kanzler
Muß in sämmtlichen Geschäftszweigen das Recht der Oberaufsicht und der
unmittelbaren Verfügung haben." Dem englischen Premierminister steht
keines dieser beiden Mittel zu Gebote. Sein Einfluß beruht lediglich darauf,
daß er als Bindeglied zwischen der ministeriellen Majorität und dem Ministe-
rium einen nicht harmonirenden Collegen durch die Drohung zur Nieder¬
legung bewegen kann, andernfalls seinerseits niederzulegen, was die Auflösung
des Ministeriums bedeutet. Die Stellung des englischen Premierministers
beruht also ganz auf der nothwendigen Führung der Majorität durch ein
Glied des Ministeriums, welches in der Regel Premierminister, und wenn
einmal nicht Premierminister, stets die eigentliche Seele des Ministeriums ist.
Der deutsche Kanzler verlangt dagegen für die Kanzlerstellung den etwaigen
Reichsministern gegenüber oder, wie wir sie lieber genannt sehen würden,
gegenüber den Vorständen der Reichsämter, ein Uebergewtcht der gesetz-


die früheren Aeußerungen Modificirendes gesagt, denn schon am 16. April
1869 sagte er dem Abgeordneten Laster, daß es ihm auf ein halb Dutzend
Ministertitel nicht ankomme, wenn in dem verlangten Gesammtministerium
dem Kanzler die Stellung des englischen Premierministers, des ersten Schatz¬
lords, wie er dort heißt, eingeräumt werde. Diesmal gestand er die Noth¬
wendigkeit unumwunden zu, für die großen Geschäftszweige des Reiches be¬
sondere Aemter mit eigenen Vorständen zu bilden, die auch den Namen
„Minister" führen könnten. Aber er verlangte wiederum, wie früher, den
maßgebenden Einfluß des Kanzlers, er bekämpfte wiederum, wie früher, den
Schluß von der Unmöglichkeit der allseitigen technischen Verantwortlichkeit
des Kanzlers auf die Unmöglichkeit der umfassenden moralischen Verantwort¬
lichkeit desselben. Dadurch erklärte sich nun der treffliche Laster äußerst be¬
ruhigt, befriedigt und beinah beglückt. Wir glauben aber der Sache einen
Dienst zu leisten, wenn wir ohne Scheu und mit Nachdruck darauf hinweisen,
daß diese schöne Eintracht ganz und gar auf einem Mißverständniß beruht.
Selbst Laster und ein Theil der Nationalliberalen kann sich nichts Schöneres
denken, als das englische parlamentarische Ministerium mit seinem maßgeben¬
den Chef, und sie möchten dem Kanzler um den Hals fallen, daß er ihnen
die Freude macht, sich zu demselben Ziel zu bekennen. Wenn die Herren
aber sich nicht zu schnell der Freude überlassen und dafür recht genau zuhören
wollten, würden sie finden, daß der Kanzler doch ein ganz anderes Ziel im
Auge hat. Er seinerseits hat es an der nöthigen Deutlichkeit nicht fehlen
lassen. Der Unterschied, der durchschlagende Unterschied, liegt in der Art,
wie der maßgebende Einfluß des leitenden Ministers gesichert werden soll.
Der Kanzler sagte am 1. December: „Es giebt nur zwei Wege. Entweder
es muß dem Kanzler gegen seine Collegen ein Entlassungsrecht eingeräumt
Werden, und das verträgt sich nicht wohl mit der Monarchie; oder der Kanzler
Muß in sämmtlichen Geschäftszweigen das Recht der Oberaufsicht und der
unmittelbaren Verfügung haben." Dem englischen Premierminister steht
keines dieser beiden Mittel zu Gebote. Sein Einfluß beruht lediglich darauf,
daß er als Bindeglied zwischen der ministeriellen Majorität und dem Ministe-
rium einen nicht harmonirenden Collegen durch die Drohung zur Nieder¬
legung bewegen kann, andernfalls seinerseits niederzulegen, was die Auflösung
des Ministeriums bedeutet. Die Stellung des englischen Premierministers
beruht also ganz auf der nothwendigen Führung der Majorität durch ein
Glied des Ministeriums, welches in der Regel Premierminister, und wenn
einmal nicht Premierminister, stets die eigentliche Seele des Ministeriums ist.
Der deutsche Kanzler verlangt dagegen für die Kanzlerstellung den etwaigen
Reichsministern gegenüber oder, wie wir sie lieber genannt sehen würden,
gegenüber den Vorständen der Reichsämter, ein Uebergewtcht der gesetz-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/475>, abgerufen am 27.07.2024.