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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Wir wagen zum Schluß dieser Betrachtung über die erste Lesung der
Iustizgesetze die Frage aufzuwerfen, deren Beantwortung wir im Reichstage
vermißten: welches der gemeinsame Grundzug dieser drei bedeutsamen Reform¬
gesetze ist. Wir erblicken denselben in Nichts so wenig, als in der Aus¬
dehnung der privaten Selbstthätigkeit auf Kosten des Staats, was uns kein
moderner Gedanke, sondern eine moderne Ephemere ist. Wir erblicken diesen
Grundzug vielmehr -in der Annäherung an die Gestalt der edelsten Cultur,
wo die Organe der öffentlichen Sittlichkeit oder des Staats als Bürgschaft
objectiver Thätigkeit nicht mehr, oder immer weniger gebunden sind an das
äußerlich niedergelegte Schema des Gesetzes, sondern wo sie mit der sittlichen
und wissenschaftlichen Durchbildung des Geistes in der Befugniß zur freiesten
Anwendung des Gesetzes die sachbeherrschende Objectivität zu bewahren wissen.
e!<?z ^o^ot", sagt Aristoteles von den Regenten auf der voll¬
kommensten Stufe der Staatsentwickelung.




(Nachtrag.)

Während ich alle anderen Reichstagsvorgänge seit der
ersten Lesung der Justizgesetze auf den nächsten Brief verschiebe, glaube ich
den Lesern dieser Berichte heute mindestens noch eine.Besprechung der
Sitzungen vom 4. und S. Dezember schuldig zu sein.

Die Sitzung am 4. Dezember eröffnete mit der Verlesung von vier
Schreiben des Reichskanzlers. Das letzte davon benachrichtigte den Reichs¬
tag, daß die bei den Ausgaben des auswärtigen Amtes gestellte Forderung
der Besoldung eines Reichsgesandten beim päpstlichen Stuhl zurückgezogen
werde. Die Mittheilung dieses Schreibens rief im Reichstag bereits eine
große Bewegung hervor. Seitdem der Papst die Betrauung eines Cardinals
mit dem Posten eines Reichsgesandten beim päpstlichen Stuhl nicht zugelassen,
ist dieser Posten valant. Die Aufnahme der Besoldung desselben unter die
Reichsausgaben war also eine bloße Formalität, indem bei der Rechnungs¬
legung die Position als nicht verausgabt in Einnahme gesetzt wurde.
Immerhin hatte diese Formalität die Bedeutung, daß die Reichsregierung
jeden Augenblick in der Lage war, einen ordentlichen Gesandten beim päpst¬
lichen Stuhl zu beglaubigen, und daß das Fehlen eines Gesandten bet diesem
Stuhl als eine Zufälligkeit erschien. Um die Bedeutung der zurückgezogenen
Besoldungsforderung zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen, daß vor
Kurzem die "Neue freie Presse" in Wien die Mittheilung brachte, das deutsche
Reich habe auf irgend welchen Wegen im Vatikan den Wunsch und die
Bereitwilligkeit zur Ausgleichung der obwaltenden Streitigkeiten kund gethan.
Es hat keine geringe Wahrscheinlichkeit, daß das Erscheinen dieser Nachricht
in diesem Blatt, das zwar nicht römisch ist, aber zu diplomatischen Manövern


Wir wagen zum Schluß dieser Betrachtung über die erste Lesung der
Iustizgesetze die Frage aufzuwerfen, deren Beantwortung wir im Reichstage
vermißten: welches der gemeinsame Grundzug dieser drei bedeutsamen Reform¬
gesetze ist. Wir erblicken denselben in Nichts so wenig, als in der Aus¬
dehnung der privaten Selbstthätigkeit auf Kosten des Staats, was uns kein
moderner Gedanke, sondern eine moderne Ephemere ist. Wir erblicken diesen
Grundzug vielmehr -in der Annäherung an die Gestalt der edelsten Cultur,
wo die Organe der öffentlichen Sittlichkeit oder des Staats als Bürgschaft
objectiver Thätigkeit nicht mehr, oder immer weniger gebunden sind an das
äußerlich niedergelegte Schema des Gesetzes, sondern wo sie mit der sittlichen
und wissenschaftlichen Durchbildung des Geistes in der Befugniß zur freiesten
Anwendung des Gesetzes die sachbeherrschende Objectivität zu bewahren wissen.
e!<?z ^o^ot", sagt Aristoteles von den Regenten auf der voll¬
kommensten Stufe der Staatsentwickelung.




(Nachtrag.)

Während ich alle anderen Reichstagsvorgänge seit der
ersten Lesung der Justizgesetze auf den nächsten Brief verschiebe, glaube ich
den Lesern dieser Berichte heute mindestens noch eine.Besprechung der
Sitzungen vom 4. und S. Dezember schuldig zu sein.

Die Sitzung am 4. Dezember eröffnete mit der Verlesung von vier
Schreiben des Reichskanzlers. Das letzte davon benachrichtigte den Reichs¬
tag, daß die bei den Ausgaben des auswärtigen Amtes gestellte Forderung
der Besoldung eines Reichsgesandten beim päpstlichen Stuhl zurückgezogen
werde. Die Mittheilung dieses Schreibens rief im Reichstag bereits eine
große Bewegung hervor. Seitdem der Papst die Betrauung eines Cardinals
mit dem Posten eines Reichsgesandten beim päpstlichen Stuhl nicht zugelassen,
ist dieser Posten valant. Die Aufnahme der Besoldung desselben unter die
Reichsausgaben war also eine bloße Formalität, indem bei der Rechnungs¬
legung die Position als nicht verausgabt in Einnahme gesetzt wurde.
Immerhin hatte diese Formalität die Bedeutung, daß die Reichsregierung
jeden Augenblick in der Lage war, einen ordentlichen Gesandten beim päpst¬
lichen Stuhl zu beglaubigen, und daß das Fehlen eines Gesandten bet diesem
Stuhl als eine Zufälligkeit erschien. Um die Bedeutung der zurückgezogenen
Besoldungsforderung zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen, daß vor
Kurzem die „Neue freie Presse" in Wien die Mittheilung brachte, das deutsche
Reich habe auf irgend welchen Wegen im Vatikan den Wunsch und die
Bereitwilligkeit zur Ausgleichung der obwaltenden Streitigkeiten kund gethan.
Es hat keine geringe Wahrscheinlichkeit, daß das Erscheinen dieser Nachricht
in diesem Blatt, das zwar nicht römisch ist, aber zu diplomatischen Manövern


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[0439] Wir wagen zum Schluß dieser Betrachtung über die erste Lesung der Iustizgesetze die Frage aufzuwerfen, deren Beantwortung wir im Reichstage vermißten: welches der gemeinsame Grundzug dieser drei bedeutsamen Reform¬ gesetze ist. Wir erblicken denselben in Nichts so wenig, als in der Aus¬ dehnung der privaten Selbstthätigkeit auf Kosten des Staats, was uns kein moderner Gedanke, sondern eine moderne Ephemere ist. Wir erblicken diesen Grundzug vielmehr -in der Annäherung an die Gestalt der edelsten Cultur, wo die Organe der öffentlichen Sittlichkeit oder des Staats als Bürgschaft objectiver Thätigkeit nicht mehr, oder immer weniger gebunden sind an das äußerlich niedergelegte Schema des Gesetzes, sondern wo sie mit der sittlichen und wissenschaftlichen Durchbildung des Geistes in der Befugniß zur freiesten Anwendung des Gesetzes die sachbeherrschende Objectivität zu bewahren wissen. e!<?z ^o^ot", sagt Aristoteles von den Regenten auf der voll¬ kommensten Stufe der Staatsentwickelung. (Nachtrag.) Während ich alle anderen Reichstagsvorgänge seit der ersten Lesung der Justizgesetze auf den nächsten Brief verschiebe, glaube ich den Lesern dieser Berichte heute mindestens noch eine.Besprechung der Sitzungen vom 4. und S. Dezember schuldig zu sein. Die Sitzung am 4. Dezember eröffnete mit der Verlesung von vier Schreiben des Reichskanzlers. Das letzte davon benachrichtigte den Reichs¬ tag, daß die bei den Ausgaben des auswärtigen Amtes gestellte Forderung der Besoldung eines Reichsgesandten beim päpstlichen Stuhl zurückgezogen werde. Die Mittheilung dieses Schreibens rief im Reichstag bereits eine große Bewegung hervor. Seitdem der Papst die Betrauung eines Cardinals mit dem Posten eines Reichsgesandten beim päpstlichen Stuhl nicht zugelassen, ist dieser Posten valant. Die Aufnahme der Besoldung desselben unter die Reichsausgaben war also eine bloße Formalität, indem bei der Rechnungs¬ legung die Position als nicht verausgabt in Einnahme gesetzt wurde. Immerhin hatte diese Formalität die Bedeutung, daß die Reichsregierung jeden Augenblick in der Lage war, einen ordentlichen Gesandten beim päpst¬ lichen Stuhl zu beglaubigen, und daß das Fehlen eines Gesandten bet diesem Stuhl als eine Zufälligkeit erschien. Um die Bedeutung der zurückgezogenen Besoldungsforderung zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen, daß vor Kurzem die „Neue freie Presse" in Wien die Mittheilung brachte, das deutsche Reich habe auf irgend welchen Wegen im Vatikan den Wunsch und die Bereitwilligkeit zur Ausgleichung der obwaltenden Streitigkeiten kund gethan. Es hat keine geringe Wahrscheinlichkeit, daß das Erscheinen dieser Nachricht in diesem Blatt, das zwar nicht römisch ist, aber zu diplomatischen Manövern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/439>, abgerufen am 27.07.2024.