Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

bunten zu sein scheinen, sonst könnten sich sehr leicht die komischen Scenen
in tragische verwandeln.

Man denke sich aber eine Stadt von nahezu 4 Millionen Einwohnern
an einem trüben Regentage in die sonntägliche Langeweile gehüllt. Alle Läden,
ja selbst die Restaurationen, mit Ausnahme der Conditoreien und einer höhern
Sorte von Branntweinläden sind geschlossen. Die unzähligen Massen aller
derer, die weder Familie noch einen sonstigen geselligen Kreis haben, in dem
sie verkehren können, deren Heim sich auf eine düstere Schlafstelle beschränkt,
sind auf die Straße, und was sich in und an derselben darbietet angewiesen.
Sie ziehen, Männer und Weiber, von früh bis Abends von einer Branntwein¬
kneipe in die Andere, gehen zwischen durch einmal aus purer Langeweile in
die Kirche und sind schließlich froh, wenn der Tag zu Ende ist. Keine Kunst¬
sammlung ist geöffnet, die ihnen Belehrung böte, kein Concert, kein Theater
gewährt ihnen Zerstreuung, ein derartiger Tag ist trostlos öde. Wie anders
ist ein Sonntag in Deutschland mit seinen frohen Festen und den fröhlichen
Gesichtern, mit unseren Museen, unseren Kunstschulen und zoologischen und
botanischen Gärten, die nicht nur geöffnet, sondern auch besucht, und zwar
vorzugsweise von den niedern Ständen besucht sind und in denen sich oft ein
heiteres vergnügtes Treiben entfaltet. Wahrlich ein deutscher Sonntag ist
einem englischen unendlich vorzuziehen, selbst mit allen seinen Ausschreitungen
und zwar dadurch, daß er dem Volk Gelegenheit giebt, sich edlen Vergnügungen
hinzugeben, wird er, trotz des schwächern Ktrchenbesuchs, auch auf eine würdi¬
gere Weise gefeiert als in England.

Kurz vor 6 Uhr Abends, bevor die Speisehäuser geöffnet werden um die
Hungernden aufzunehmen und zu sättigen, sammeln sich vor deren Thüren
Gruppen von Herren und Damen, Fremden und Einheimischen an, die sehn¬
süchtig auf das Oeffnen harren, wie es sonst wohl häufig vor den Cassen der
Theater zu sehen ist. Da kann man alle Sprachen der Erde hören, mancher
traute heimatliche Laut schlägt an das Ohr, und während allerdings die Meisten
die Verwünschungen über die englische Sonntagsfeier hübsch bei sich behalten,
macht sich manchmal dieser oder jener Luft und nicht am seltensten sind es
deutsche Zungen, die sich da vernehmen lassen.

Da wir gerade vor einem Speisehaus stehen, sei es gestattet, auch einen
Blick hinein zu werfen. In allen Londoner Restaurationen, auch in den
weniger feinen, herrscht eine sehr wohlthuende Reinlichkeit, die verbunden mit
andern vortheilhaften Einrichtungen sehr wesentlich dazu beiträgt, daß man
stets mit Appetit ißt und trinkt. Man mag über die englische Küche denken,
wie man Will, -- und über den Geschmack läßt sich ja bekanntlich nicht streiten
-- so wird man doch zugeben müssen, daß man nicht nur überall ausgezeichnetes
Fleisch findet, sondern daß vor allen Dingen auch die Art und Weise der


bunten zu sein scheinen, sonst könnten sich sehr leicht die komischen Scenen
in tragische verwandeln.

Man denke sich aber eine Stadt von nahezu 4 Millionen Einwohnern
an einem trüben Regentage in die sonntägliche Langeweile gehüllt. Alle Läden,
ja selbst die Restaurationen, mit Ausnahme der Conditoreien und einer höhern
Sorte von Branntweinläden sind geschlossen. Die unzähligen Massen aller
derer, die weder Familie noch einen sonstigen geselligen Kreis haben, in dem
sie verkehren können, deren Heim sich auf eine düstere Schlafstelle beschränkt,
sind auf die Straße, und was sich in und an derselben darbietet angewiesen.
Sie ziehen, Männer und Weiber, von früh bis Abends von einer Branntwein¬
kneipe in die Andere, gehen zwischen durch einmal aus purer Langeweile in
die Kirche und sind schließlich froh, wenn der Tag zu Ende ist. Keine Kunst¬
sammlung ist geöffnet, die ihnen Belehrung böte, kein Concert, kein Theater
gewährt ihnen Zerstreuung, ein derartiger Tag ist trostlos öde. Wie anders
ist ein Sonntag in Deutschland mit seinen frohen Festen und den fröhlichen
Gesichtern, mit unseren Museen, unseren Kunstschulen und zoologischen und
botanischen Gärten, die nicht nur geöffnet, sondern auch besucht, und zwar
vorzugsweise von den niedern Ständen besucht sind und in denen sich oft ein
heiteres vergnügtes Treiben entfaltet. Wahrlich ein deutscher Sonntag ist
einem englischen unendlich vorzuziehen, selbst mit allen seinen Ausschreitungen
und zwar dadurch, daß er dem Volk Gelegenheit giebt, sich edlen Vergnügungen
hinzugeben, wird er, trotz des schwächern Ktrchenbesuchs, auch auf eine würdi¬
gere Weise gefeiert als in England.

Kurz vor 6 Uhr Abends, bevor die Speisehäuser geöffnet werden um die
Hungernden aufzunehmen und zu sättigen, sammeln sich vor deren Thüren
Gruppen von Herren und Damen, Fremden und Einheimischen an, die sehn¬
süchtig auf das Oeffnen harren, wie es sonst wohl häufig vor den Cassen der
Theater zu sehen ist. Da kann man alle Sprachen der Erde hören, mancher
traute heimatliche Laut schlägt an das Ohr, und während allerdings die Meisten
die Verwünschungen über die englische Sonntagsfeier hübsch bei sich behalten,
macht sich manchmal dieser oder jener Luft und nicht am seltensten sind es
deutsche Zungen, die sich da vernehmen lassen.

Da wir gerade vor einem Speisehaus stehen, sei es gestattet, auch einen
Blick hinein zu werfen. In allen Londoner Restaurationen, auch in den
weniger feinen, herrscht eine sehr wohlthuende Reinlichkeit, die verbunden mit
andern vortheilhaften Einrichtungen sehr wesentlich dazu beiträgt, daß man
stets mit Appetit ißt und trinkt. Man mag über die englische Küche denken,
wie man Will, — und über den Geschmack läßt sich ja bekanntlich nicht streiten
— so wird man doch zugeben müssen, daß man nicht nur überall ausgezeichnetes
Fleisch findet, sondern daß vor allen Dingen auch die Art und Weise der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0420" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132642"/>
          <p xml:id="ID_1219" prev="#ID_1218"> bunten zu sein scheinen, sonst könnten sich sehr leicht die komischen Scenen<lb/>
in tragische verwandeln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1220"> Man denke sich aber eine Stadt von nahezu 4 Millionen Einwohnern<lb/>
an einem trüben Regentage in die sonntägliche Langeweile gehüllt. Alle Läden,<lb/>
ja selbst die Restaurationen, mit Ausnahme der Conditoreien und einer höhern<lb/>
Sorte von Branntweinläden sind geschlossen. Die unzähligen Massen aller<lb/>
derer, die weder Familie noch einen sonstigen geselligen Kreis haben, in dem<lb/>
sie verkehren können, deren Heim sich auf eine düstere Schlafstelle beschränkt,<lb/>
sind auf die Straße, und was sich in und an derselben darbietet angewiesen.<lb/>
Sie ziehen, Männer und Weiber, von früh bis Abends von einer Branntwein¬<lb/>
kneipe in die Andere, gehen zwischen durch einmal aus purer Langeweile in<lb/>
die Kirche und sind schließlich froh, wenn der Tag zu Ende ist. Keine Kunst¬<lb/>
sammlung ist geöffnet, die ihnen Belehrung böte, kein Concert, kein Theater<lb/>
gewährt ihnen Zerstreuung, ein derartiger Tag ist trostlos öde. Wie anders<lb/>
ist ein Sonntag in Deutschland mit seinen frohen Festen und den fröhlichen<lb/>
Gesichtern, mit unseren Museen, unseren Kunstschulen und zoologischen und<lb/>
botanischen Gärten, die nicht nur geöffnet, sondern auch besucht, und zwar<lb/>
vorzugsweise von den niedern Ständen besucht sind und in denen sich oft ein<lb/>
heiteres vergnügtes Treiben entfaltet. Wahrlich ein deutscher Sonntag ist<lb/>
einem englischen unendlich vorzuziehen, selbst mit allen seinen Ausschreitungen<lb/>
und zwar dadurch, daß er dem Volk Gelegenheit giebt, sich edlen Vergnügungen<lb/>
hinzugeben, wird er, trotz des schwächern Ktrchenbesuchs, auch auf eine würdi¬<lb/>
gere Weise gefeiert als in England.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1221"> Kurz vor 6 Uhr Abends, bevor die Speisehäuser geöffnet werden um die<lb/>
Hungernden aufzunehmen und zu sättigen, sammeln sich vor deren Thüren<lb/>
Gruppen von Herren und Damen, Fremden und Einheimischen an, die sehn¬<lb/>
süchtig auf das Oeffnen harren, wie es sonst wohl häufig vor den Cassen der<lb/>
Theater zu sehen ist. Da kann man alle Sprachen der Erde hören, mancher<lb/>
traute heimatliche Laut schlägt an das Ohr, und während allerdings die Meisten<lb/>
die Verwünschungen über die englische Sonntagsfeier hübsch bei sich behalten,<lb/>
macht sich manchmal dieser oder jener Luft und nicht am seltensten sind es<lb/>
deutsche Zungen, die sich da vernehmen lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1222" next="#ID_1223"> Da wir gerade vor einem Speisehaus stehen, sei es gestattet, auch einen<lb/>
Blick hinein zu werfen. In allen Londoner Restaurationen, auch in den<lb/>
weniger feinen, herrscht eine sehr wohlthuende Reinlichkeit, die verbunden mit<lb/>
andern vortheilhaften Einrichtungen sehr wesentlich dazu beiträgt, daß man<lb/>
stets mit Appetit ißt und trinkt. Man mag über die englische Küche denken,<lb/>
wie man Will, &#x2014; und über den Geschmack läßt sich ja bekanntlich nicht streiten<lb/>
&#x2014; so wird man doch zugeben müssen, daß man nicht nur überall ausgezeichnetes<lb/>
Fleisch findet, sondern daß vor allen Dingen auch die Art und Weise der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0420] bunten zu sein scheinen, sonst könnten sich sehr leicht die komischen Scenen in tragische verwandeln. Man denke sich aber eine Stadt von nahezu 4 Millionen Einwohnern an einem trüben Regentage in die sonntägliche Langeweile gehüllt. Alle Läden, ja selbst die Restaurationen, mit Ausnahme der Conditoreien und einer höhern Sorte von Branntweinläden sind geschlossen. Die unzähligen Massen aller derer, die weder Familie noch einen sonstigen geselligen Kreis haben, in dem sie verkehren können, deren Heim sich auf eine düstere Schlafstelle beschränkt, sind auf die Straße, und was sich in und an derselben darbietet angewiesen. Sie ziehen, Männer und Weiber, von früh bis Abends von einer Branntwein¬ kneipe in die Andere, gehen zwischen durch einmal aus purer Langeweile in die Kirche und sind schließlich froh, wenn der Tag zu Ende ist. Keine Kunst¬ sammlung ist geöffnet, die ihnen Belehrung böte, kein Concert, kein Theater gewährt ihnen Zerstreuung, ein derartiger Tag ist trostlos öde. Wie anders ist ein Sonntag in Deutschland mit seinen frohen Festen und den fröhlichen Gesichtern, mit unseren Museen, unseren Kunstschulen und zoologischen und botanischen Gärten, die nicht nur geöffnet, sondern auch besucht, und zwar vorzugsweise von den niedern Ständen besucht sind und in denen sich oft ein heiteres vergnügtes Treiben entfaltet. Wahrlich ein deutscher Sonntag ist einem englischen unendlich vorzuziehen, selbst mit allen seinen Ausschreitungen und zwar dadurch, daß er dem Volk Gelegenheit giebt, sich edlen Vergnügungen hinzugeben, wird er, trotz des schwächern Ktrchenbesuchs, auch auf eine würdi¬ gere Weise gefeiert als in England. Kurz vor 6 Uhr Abends, bevor die Speisehäuser geöffnet werden um die Hungernden aufzunehmen und zu sättigen, sammeln sich vor deren Thüren Gruppen von Herren und Damen, Fremden und Einheimischen an, die sehn¬ süchtig auf das Oeffnen harren, wie es sonst wohl häufig vor den Cassen der Theater zu sehen ist. Da kann man alle Sprachen der Erde hören, mancher traute heimatliche Laut schlägt an das Ohr, und während allerdings die Meisten die Verwünschungen über die englische Sonntagsfeier hübsch bei sich behalten, macht sich manchmal dieser oder jener Luft und nicht am seltensten sind es deutsche Zungen, die sich da vernehmen lassen. Da wir gerade vor einem Speisehaus stehen, sei es gestattet, auch einen Blick hinein zu werfen. In allen Londoner Restaurationen, auch in den weniger feinen, herrscht eine sehr wohlthuende Reinlichkeit, die verbunden mit andern vortheilhaften Einrichtungen sehr wesentlich dazu beiträgt, daß man stets mit Appetit ißt und trinkt. Man mag über die englische Küche denken, wie man Will, — und über den Geschmack läßt sich ja bekanntlich nicht streiten — so wird man doch zugeben müssen, daß man nicht nur überall ausgezeichnetes Fleisch findet, sondern daß vor allen Dingen auch die Art und Weise der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/420
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/420>, abgerufen am 27.07.2024.