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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Mallinkrodt sich dieser Arbeit nicht mehr unterziehen kann, dispensirt Herr
Windthorst den diätetischen -- beinah hätten wir einen zwar parlamentarischen,
aber doch allzu deutlichen Ausdruck angewendet; wir sagen also die diätetische
Behandlung.

Der Reichskanzler zeigte aufs neue, daß er versteht, einem erbosten
Gegner die Waffe in der Hand umzukehren. Er that es mit dem einfachen
Hinweis, daß die häufige Verhängung der Strafhaft nicht an der Strenge
des Gesetzes, sondern an der häufigen Uebertretung desselben liegt; daß für
die häufige Übertretung des Gesetzes die hochstehenden Beispiele derer ver¬
antwortlich zu machen sind, die vorzugsweise auf die Achtung vor dem Gesetz
halten sollten, außerdem aber die Beschaffenheit des Jugendunterrichtes bei
der Art, wie die Staatsaufsicht über denselben in den letzten 25 Jahren ge¬
ordnet war. Der Reichskanzler schloß mit der stark ironischen Wendung, daß
er thun werde, was er könne, um den inhaftirten Abgeordneten die Freiheit
zu verschaffen, denn Reden wie die der Herren Hasselmann und Liebknecht
seien außerordentlich lehrreich und hätten lange gefehlt.

Es trat nunmehr Laster der Unermüdliche, auf, um an die Liebknecht-
schen und Windthorst'schen Reden allerlei Bemerkungen über den Strafprozeß
Zu knüpfen, wie er gegenwärtig gehandhabt wird. Es waren diese Be¬
merkungen Vorwegnahmen der Debatte über den Entwurf der Strafproze߬
ordnung, welche deßhalb erst bei dieser Debatte zu berücksichtigen sind. Der
^iebknechtsche Antrag rief aber noch Herrn August Retchensperger auf den
Rednerstand. Der Redner berief sich gegen die Ausführung des Reichskanzlers,
daß aus der häufigen Übertretung des Gesetzes die häufige Verhängung der
Strafhaft folge, wieder einmal auf das katholische Gewissen. Der Reichs¬
kanzler entgegnete sofort, daß wenn die Befolgung der Gesetze vom Gewissen
^hängen solle, das Gewissen jedes Deutschen die gleiche Berechtigung haben
Müsse; ein social-demokratisches Gewissen dieselbe Berechtigung wie ein kleri¬
kales. Herr August Reichensperger nahm diesen scharfen Hieb sehr empfindlich
auf. Er wollte seine Partei durchaus nicht auf gleiche Linie mit den Social¬
demokraten stellen lassen, ohne jedoch eine schlagende Abwehr zu finden. Die
reichsfeindliche Presse hat sich aber der Aeußerung des Fürsten Bismarck sofort
wieder bemächtigt zu neuen Diatriben und Anschuldigungen, daß der Staat,
ihn Fürst Bismarck versteht. auch das Gewissen reguliren wolle. Die
Wahrheit ist. daß ein Conflict zwischen Staat und Gewissen nur eintreten
kann, wenn entweder der Staat oder das Gewissen in die Sphäre des an¬
deren übergreifen. Welche Erscheinungen folgen, wenn die äußere Gewalt die
Sklaverei des Gewissens erzwingen will, davon hat die römische Kirche die
Rassischer und abschreckendsten Beispiele der schaudernden Erinnerung aller
Zeiten hinterlassen. Welche Erscheinungen folgen, wenn das Gewissen von


Mallinkrodt sich dieser Arbeit nicht mehr unterziehen kann, dispensirt Herr
Windthorst den diätetischen — beinah hätten wir einen zwar parlamentarischen,
aber doch allzu deutlichen Ausdruck angewendet; wir sagen also die diätetische
Behandlung.

Der Reichskanzler zeigte aufs neue, daß er versteht, einem erbosten
Gegner die Waffe in der Hand umzukehren. Er that es mit dem einfachen
Hinweis, daß die häufige Verhängung der Strafhaft nicht an der Strenge
des Gesetzes, sondern an der häufigen Uebertretung desselben liegt; daß für
die häufige Übertretung des Gesetzes die hochstehenden Beispiele derer ver¬
antwortlich zu machen sind, die vorzugsweise auf die Achtung vor dem Gesetz
halten sollten, außerdem aber die Beschaffenheit des Jugendunterrichtes bei
der Art, wie die Staatsaufsicht über denselben in den letzten 25 Jahren ge¬
ordnet war. Der Reichskanzler schloß mit der stark ironischen Wendung, daß
er thun werde, was er könne, um den inhaftirten Abgeordneten die Freiheit
zu verschaffen, denn Reden wie die der Herren Hasselmann und Liebknecht
seien außerordentlich lehrreich und hätten lange gefehlt.

Es trat nunmehr Laster der Unermüdliche, auf, um an die Liebknecht-
schen und Windthorst'schen Reden allerlei Bemerkungen über den Strafprozeß
Zu knüpfen, wie er gegenwärtig gehandhabt wird. Es waren diese Be¬
merkungen Vorwegnahmen der Debatte über den Entwurf der Strafproze߬
ordnung, welche deßhalb erst bei dieser Debatte zu berücksichtigen sind. Der
^iebknechtsche Antrag rief aber noch Herrn August Retchensperger auf den
Rednerstand. Der Redner berief sich gegen die Ausführung des Reichskanzlers,
daß aus der häufigen Übertretung des Gesetzes die häufige Verhängung der
Strafhaft folge, wieder einmal auf das katholische Gewissen. Der Reichs¬
kanzler entgegnete sofort, daß wenn die Befolgung der Gesetze vom Gewissen
^hängen solle, das Gewissen jedes Deutschen die gleiche Berechtigung haben
Müsse; ein social-demokratisches Gewissen dieselbe Berechtigung wie ein kleri¬
kales. Herr August Reichensperger nahm diesen scharfen Hieb sehr empfindlich
auf. Er wollte seine Partei durchaus nicht auf gleiche Linie mit den Social¬
demokraten stellen lassen, ohne jedoch eine schlagende Abwehr zu finden. Die
reichsfeindliche Presse hat sich aber der Aeußerung des Fürsten Bismarck sofort
wieder bemächtigt zu neuen Diatriben und Anschuldigungen, daß der Staat,
ihn Fürst Bismarck versteht. auch das Gewissen reguliren wolle. Die
Wahrheit ist. daß ein Conflict zwischen Staat und Gewissen nur eintreten
kann, wenn entweder der Staat oder das Gewissen in die Sphäre des an¬
deren übergreifen. Welche Erscheinungen folgen, wenn die äußere Gewalt die
Sklaverei des Gewissens erzwingen will, davon hat die römische Kirche die
Rassischer und abschreckendsten Beispiele der schaudernden Erinnerung aller
Zeiten hinterlassen. Welche Erscheinungen folgen, wenn das Gewissen von


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[0395] Mallinkrodt sich dieser Arbeit nicht mehr unterziehen kann, dispensirt Herr Windthorst den diätetischen — beinah hätten wir einen zwar parlamentarischen, aber doch allzu deutlichen Ausdruck angewendet; wir sagen also die diätetische Behandlung. Der Reichskanzler zeigte aufs neue, daß er versteht, einem erbosten Gegner die Waffe in der Hand umzukehren. Er that es mit dem einfachen Hinweis, daß die häufige Verhängung der Strafhaft nicht an der Strenge des Gesetzes, sondern an der häufigen Uebertretung desselben liegt; daß für die häufige Übertretung des Gesetzes die hochstehenden Beispiele derer ver¬ antwortlich zu machen sind, die vorzugsweise auf die Achtung vor dem Gesetz halten sollten, außerdem aber die Beschaffenheit des Jugendunterrichtes bei der Art, wie die Staatsaufsicht über denselben in den letzten 25 Jahren ge¬ ordnet war. Der Reichskanzler schloß mit der stark ironischen Wendung, daß er thun werde, was er könne, um den inhaftirten Abgeordneten die Freiheit zu verschaffen, denn Reden wie die der Herren Hasselmann und Liebknecht seien außerordentlich lehrreich und hätten lange gefehlt. Es trat nunmehr Laster der Unermüdliche, auf, um an die Liebknecht- schen und Windthorst'schen Reden allerlei Bemerkungen über den Strafprozeß Zu knüpfen, wie er gegenwärtig gehandhabt wird. Es waren diese Be¬ merkungen Vorwegnahmen der Debatte über den Entwurf der Strafproze߬ ordnung, welche deßhalb erst bei dieser Debatte zu berücksichtigen sind. Der ^iebknechtsche Antrag rief aber noch Herrn August Retchensperger auf den Rednerstand. Der Redner berief sich gegen die Ausführung des Reichskanzlers, daß aus der häufigen Übertretung des Gesetzes die häufige Verhängung der Strafhaft folge, wieder einmal auf das katholische Gewissen. Der Reichs¬ kanzler entgegnete sofort, daß wenn die Befolgung der Gesetze vom Gewissen ^hängen solle, das Gewissen jedes Deutschen die gleiche Berechtigung haben Müsse; ein social-demokratisches Gewissen dieselbe Berechtigung wie ein kleri¬ kales. Herr August Reichensperger nahm diesen scharfen Hieb sehr empfindlich auf. Er wollte seine Partei durchaus nicht auf gleiche Linie mit den Social¬ demokraten stellen lassen, ohne jedoch eine schlagende Abwehr zu finden. Die reichsfeindliche Presse hat sich aber der Aeußerung des Fürsten Bismarck sofort wieder bemächtigt zu neuen Diatriben und Anschuldigungen, daß der Staat, ihn Fürst Bismarck versteht. auch das Gewissen reguliren wolle. Die Wahrheit ist. daß ein Conflict zwischen Staat und Gewissen nur eintreten kann, wenn entweder der Staat oder das Gewissen in die Sphäre des an¬ deren übergreifen. Welche Erscheinungen folgen, wenn die äußere Gewalt die Sklaverei des Gewissens erzwingen will, davon hat die römische Kirche die Rassischer und abschreckendsten Beispiele der schaudernden Erinnerung aller Zeiten hinterlassen. Welche Erscheinungen folgen, wenn das Gewissen von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/395>, abgerufen am 27.07.2024.