Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gezeigt; darauf unter den Zurückbleibenden gegenseitige Schmeichelei über
braven Charakter und endlich Auflösung in allgemeinem Wohlgefallen. Das
wenigstens wird der Dichter wohl beabsichtigt haben; dem deutschen Geschmack
aber kann er Wohlgefallen und Befriedigung unmöglich einflößen. Das Stück
ist für unser Empfinden von Anfang bis zu Ende aus den peinlichsten
Situationen zusammengesetzt. Gradezu widerlich wirkt es, daß uns die kleine
Adrienne als Meisterin in der Verstellung vorgeführt wird. Sie kennt ihre
Mama und liebt sie aufs innigste, verräth dies Geheimniß in Gegenwart
Anderer aber mit keiner Silbe und keiner Miene. Ueber den sittlichen Werth
des Stücks noch ein Wort zu sagen, ist überflüssig. Die technische Mache
entspricht dem, was man von einem gewandten Bühnenschriftsteller von
Dumas' Schlage erwartet. Der larmoyante Ton, welcher hie und da einzu-
reißen droht, wird durch das burleske Eingreifen der Guichard immer noch
rechtzeitig verdrängt. Gespiele wird das Stück im Residenztheater recht brav
und mit großer Sorgfalt. Für die Rolle der Adrienne hat man sich sogar
eigens ein recht talentvolles Mädchen vom Wiener Karltheater verschrieben.

Ein anderes französisches Stück hat uns neuerdings das Wallnertheater
vorgeführt, eine Posse von Gvndinet, betitelt "Die Bureaukraten von Paris."
Das Stück ist nach zwei oder drei Wiederholungen vom Repertoir verschwunden,
hat also einen eclatanten Mißerfolg gehabt, trotz der vortrefflichen Charakter¬
figur, welche der Director der Bühne, Herr Lebrun, aus der Rolle des
Pinaut de la Picaudiere geschaffen hatte. Der Grund der ablehnenden
Haltung unseres Publikums liegt nicht allein in der Breite der Handlung,
sondern mehr vielleicht noch in der gründlichen Verschiedenheit der Anschauungen
und Gewohnheiten. Ist doch an der gleichen Klippe schon so manche Wiener
Posse bei uns gescheitert!

Uebrigens hat sich das Wallnertheater rasch von der Schlappe erholt.
In der vorletzten Woche ist es mit zwei Novitäten vorgegangen, die beide den
Beifall verdienen, welchen sie gleich Anfangs geerntet haben. Die erste,
"Die Versucherin" von G. v. Moser, ist eine einactige gefällige Kleinigkeit.
Weniger harmlos ist die andere, ein dreiactiges "Originallustspiel" von
I- B. v. Schweitzer, betitelt "Die Darwinianer." Im Grunde hat der
Darwinismus mit dem Stücke weiter nichts zu schaffen, als daß er von einer
Person, einem Professor, wirklich bekannt, von einer anderen, einem Allerwelts-
entrepreneur, als geeignetes Object zu schwindelhafter Ausbeutung betrachtet,
von allen übrigen aber gehaßt wird. Das Gros der Handlung besteht in
der Schilderung, wie ein um eine vornehme Dame sich bewerbender Baron
durch die Erinnerung an seine galanten Abenteuer in allerlei verzweifelte
Situationen versetzt wird, in welche er auch seinen zukünftigen Schwager, den
Professor, verwickelt. Es mag dem ehemaligen Socialistenführer Schweitzer


gezeigt; darauf unter den Zurückbleibenden gegenseitige Schmeichelei über
braven Charakter und endlich Auflösung in allgemeinem Wohlgefallen. Das
wenigstens wird der Dichter wohl beabsichtigt haben; dem deutschen Geschmack
aber kann er Wohlgefallen und Befriedigung unmöglich einflößen. Das Stück
ist für unser Empfinden von Anfang bis zu Ende aus den peinlichsten
Situationen zusammengesetzt. Gradezu widerlich wirkt es, daß uns die kleine
Adrienne als Meisterin in der Verstellung vorgeführt wird. Sie kennt ihre
Mama und liebt sie aufs innigste, verräth dies Geheimniß in Gegenwart
Anderer aber mit keiner Silbe und keiner Miene. Ueber den sittlichen Werth
des Stücks noch ein Wort zu sagen, ist überflüssig. Die technische Mache
entspricht dem, was man von einem gewandten Bühnenschriftsteller von
Dumas' Schlage erwartet. Der larmoyante Ton, welcher hie und da einzu-
reißen droht, wird durch das burleske Eingreifen der Guichard immer noch
rechtzeitig verdrängt. Gespiele wird das Stück im Residenztheater recht brav
und mit großer Sorgfalt. Für die Rolle der Adrienne hat man sich sogar
eigens ein recht talentvolles Mädchen vom Wiener Karltheater verschrieben.

Ein anderes französisches Stück hat uns neuerdings das Wallnertheater
vorgeführt, eine Posse von Gvndinet, betitelt „Die Bureaukraten von Paris."
Das Stück ist nach zwei oder drei Wiederholungen vom Repertoir verschwunden,
hat also einen eclatanten Mißerfolg gehabt, trotz der vortrefflichen Charakter¬
figur, welche der Director der Bühne, Herr Lebrun, aus der Rolle des
Pinaut de la Picaudiere geschaffen hatte. Der Grund der ablehnenden
Haltung unseres Publikums liegt nicht allein in der Breite der Handlung,
sondern mehr vielleicht noch in der gründlichen Verschiedenheit der Anschauungen
und Gewohnheiten. Ist doch an der gleichen Klippe schon so manche Wiener
Posse bei uns gescheitert!

Uebrigens hat sich das Wallnertheater rasch von der Schlappe erholt.
In der vorletzten Woche ist es mit zwei Novitäten vorgegangen, die beide den
Beifall verdienen, welchen sie gleich Anfangs geerntet haben. Die erste,
»Die Versucherin" von G. v. Moser, ist eine einactige gefällige Kleinigkeit.
Weniger harmlos ist die andere, ein dreiactiges „Originallustspiel" von
I- B. v. Schweitzer, betitelt „Die Darwinianer." Im Grunde hat der
Darwinismus mit dem Stücke weiter nichts zu schaffen, als daß er von einer
Person, einem Professor, wirklich bekannt, von einer anderen, einem Allerwelts-
entrepreneur, als geeignetes Object zu schwindelhafter Ausbeutung betrachtet,
von allen übrigen aber gehaßt wird. Das Gros der Handlung besteht in
der Schilderung, wie ein um eine vornehme Dame sich bewerbender Baron
durch die Erinnerung an seine galanten Abenteuer in allerlei verzweifelte
Situationen versetzt wird, in welche er auch seinen zukünftigen Schwager, den
Professor, verwickelt. Es mag dem ehemaligen Socialistenführer Schweitzer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0391" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/132613"/>
          <p xml:id="ID_1147" prev="#ID_1146"> gezeigt; darauf unter den Zurückbleibenden gegenseitige Schmeichelei über<lb/>
braven Charakter und endlich Auflösung in allgemeinem Wohlgefallen. Das<lb/>
wenigstens wird der Dichter wohl beabsichtigt haben; dem deutschen Geschmack<lb/>
aber kann er Wohlgefallen und Befriedigung unmöglich einflößen. Das Stück<lb/>
ist für unser Empfinden von Anfang bis zu Ende aus den peinlichsten<lb/>
Situationen zusammengesetzt. Gradezu widerlich wirkt es, daß uns die kleine<lb/>
Adrienne als Meisterin in der Verstellung vorgeführt wird. Sie kennt ihre<lb/>
Mama und liebt sie aufs innigste, verräth dies Geheimniß in Gegenwart<lb/>
Anderer aber mit keiner Silbe und keiner Miene. Ueber den sittlichen Werth<lb/>
des Stücks noch ein Wort zu sagen, ist überflüssig. Die technische Mache<lb/>
entspricht dem, was man von einem gewandten Bühnenschriftsteller von<lb/>
Dumas' Schlage erwartet. Der larmoyante Ton, welcher hie und da einzu-<lb/>
reißen droht, wird durch das burleske Eingreifen der Guichard immer noch<lb/>
rechtzeitig verdrängt. Gespiele wird das Stück im Residenztheater recht brav<lb/>
und mit großer Sorgfalt. Für die Rolle der Adrienne hat man sich sogar<lb/>
eigens ein recht talentvolles Mädchen vom Wiener Karltheater verschrieben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1148"> Ein anderes französisches Stück hat uns neuerdings das Wallnertheater<lb/>
vorgeführt, eine Posse von Gvndinet, betitelt &#x201E;Die Bureaukraten von Paris."<lb/>
Das Stück ist nach zwei oder drei Wiederholungen vom Repertoir verschwunden,<lb/>
hat also einen eclatanten Mißerfolg gehabt, trotz der vortrefflichen Charakter¬<lb/>
figur, welche der Director der Bühne, Herr Lebrun, aus der Rolle des<lb/>
Pinaut de la Picaudiere geschaffen hatte. Der Grund der ablehnenden<lb/>
Haltung unseres Publikums liegt nicht allein in der Breite der Handlung,<lb/>
sondern mehr vielleicht noch in der gründlichen Verschiedenheit der Anschauungen<lb/>
und Gewohnheiten. Ist doch an der gleichen Klippe schon so manche Wiener<lb/>
Posse bei uns gescheitert!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1149" next="#ID_1150"> Uebrigens hat sich das Wallnertheater rasch von der Schlappe erholt.<lb/>
In der vorletzten Woche ist es mit zwei Novitäten vorgegangen, die beide den<lb/>
Beifall verdienen, welchen sie gleich Anfangs geerntet haben. Die erste,<lb/>
»Die Versucherin" von G. v. Moser, ist eine einactige gefällige Kleinigkeit.<lb/>
Weniger harmlos ist die andere, ein dreiactiges &#x201E;Originallustspiel" von<lb/>
I- B. v. Schweitzer, betitelt &#x201E;Die Darwinianer." Im Grunde hat der<lb/>
Darwinismus mit dem Stücke weiter nichts zu schaffen, als daß er von einer<lb/>
Person, einem Professor, wirklich bekannt, von einer anderen, einem Allerwelts-<lb/>
entrepreneur, als geeignetes Object zu schwindelhafter Ausbeutung betrachtet,<lb/>
von allen übrigen aber gehaßt wird. Das Gros der Handlung besteht in<lb/>
der Schilderung, wie ein um eine vornehme Dame sich bewerbender Baron<lb/>
durch die Erinnerung an seine galanten Abenteuer in allerlei verzweifelte<lb/>
Situationen versetzt wird, in welche er auch seinen zukünftigen Schwager, den<lb/>
Professor, verwickelt.  Es mag dem ehemaligen Socialistenführer Schweitzer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0391] gezeigt; darauf unter den Zurückbleibenden gegenseitige Schmeichelei über braven Charakter und endlich Auflösung in allgemeinem Wohlgefallen. Das wenigstens wird der Dichter wohl beabsichtigt haben; dem deutschen Geschmack aber kann er Wohlgefallen und Befriedigung unmöglich einflößen. Das Stück ist für unser Empfinden von Anfang bis zu Ende aus den peinlichsten Situationen zusammengesetzt. Gradezu widerlich wirkt es, daß uns die kleine Adrienne als Meisterin in der Verstellung vorgeführt wird. Sie kennt ihre Mama und liebt sie aufs innigste, verräth dies Geheimniß in Gegenwart Anderer aber mit keiner Silbe und keiner Miene. Ueber den sittlichen Werth des Stücks noch ein Wort zu sagen, ist überflüssig. Die technische Mache entspricht dem, was man von einem gewandten Bühnenschriftsteller von Dumas' Schlage erwartet. Der larmoyante Ton, welcher hie und da einzu- reißen droht, wird durch das burleske Eingreifen der Guichard immer noch rechtzeitig verdrängt. Gespiele wird das Stück im Residenztheater recht brav und mit großer Sorgfalt. Für die Rolle der Adrienne hat man sich sogar eigens ein recht talentvolles Mädchen vom Wiener Karltheater verschrieben. Ein anderes französisches Stück hat uns neuerdings das Wallnertheater vorgeführt, eine Posse von Gvndinet, betitelt „Die Bureaukraten von Paris." Das Stück ist nach zwei oder drei Wiederholungen vom Repertoir verschwunden, hat also einen eclatanten Mißerfolg gehabt, trotz der vortrefflichen Charakter¬ figur, welche der Director der Bühne, Herr Lebrun, aus der Rolle des Pinaut de la Picaudiere geschaffen hatte. Der Grund der ablehnenden Haltung unseres Publikums liegt nicht allein in der Breite der Handlung, sondern mehr vielleicht noch in der gründlichen Verschiedenheit der Anschauungen und Gewohnheiten. Ist doch an der gleichen Klippe schon so manche Wiener Posse bei uns gescheitert! Uebrigens hat sich das Wallnertheater rasch von der Schlappe erholt. In der vorletzten Woche ist es mit zwei Novitäten vorgegangen, die beide den Beifall verdienen, welchen sie gleich Anfangs geerntet haben. Die erste, »Die Versucherin" von G. v. Moser, ist eine einactige gefällige Kleinigkeit. Weniger harmlos ist die andere, ein dreiactiges „Originallustspiel" von I- B. v. Schweitzer, betitelt „Die Darwinianer." Im Grunde hat der Darwinismus mit dem Stücke weiter nichts zu schaffen, als daß er von einer Person, einem Professor, wirklich bekannt, von einer anderen, einem Allerwelts- entrepreneur, als geeignetes Object zu schwindelhafter Ausbeutung betrachtet, von allen übrigen aber gehaßt wird. Das Gros der Handlung besteht in der Schilderung, wie ein um eine vornehme Dame sich bewerbender Baron durch die Erinnerung an seine galanten Abenteuer in allerlei verzweifelte Situationen versetzt wird, in welche er auch seinen zukünftigen Schwager, den Professor, verwickelt. Es mag dem ehemaligen Socialistenführer Schweitzer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/391
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/391>, abgerufen am 27.07.2024.