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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Spaziergängern stark belebt sind, die ihre Augen an den so mannichfaltigen
Erzeugnissen von Kunst und Industrie, die in den glänzenden Schaufenstern
ausgestellt sind, oder an dem schönen ewigen Grün der englischen Nasen und
Parks weiden.

Besonders der 9. November hatte Alt und Jung aus den Häusern auf
die Straßen gelockt. Dieser Tag ist bekanntlich der Anfang der jeweilig
einjährigen Amtsdauer des Lordmayor, und nach althergebrachter Sitte zieht
der neuerwählte Bürgermeister in feierlichem Aufzuge durch die Hauptstraßen
der City und von Westend. Obgleich nun der Zug selbst durchaus nicht
als sehr sehenswerth bezeichnet werden kann, -- denn er besteht mit Aus¬
nahme einiger weniger, allerdings prächtiger und des reichen Londons wür¬
diger Staatswagen, aus ganz gewöhnlichen Equipagen, einigen Militair-
mustkchören, einer Unmasse von Fahnen der Londoner Korporationen und
den ganzen Zug einfassenden Husaren; -- so. läßt sich doch kein Londoner
nehmen, seinen neuen gestrengen Herrn schon am ersten Tage seiner Amts¬
dauer von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, wobei er dann auch, wenn
nöthig, die erforderlichen Ausstellungen in Form von harmlosen Witzen gleich
an die richtigste Adresse befördert. Der einmal auf diese Weise in der löb¬
lichsten Absicht unterbrochene Arbeitstag wird dann im weiteren Verlaufe
gleich zum richtigen Volksfest und besonders Abends ergeht sich das Volk in
den festlich illuminirten Straßen bis spät in die Nacht hinein mit harmlosen
aber darum um so ergötzlicheren Scherzen. Man möchte denken, es wäre
Plötzlich Fasching geworden, die zahlreichen Schaaren, die Kasperletheater,
sonstige improvisirte Schaustellungen und ohrenzerreißende Concerte, natürlich
alles auf offener Straße -- vereinigen sich um die Illusion möglichst vollstän¬
dig zu machen.

Und das Alles in London, in der Hauptstadt desjenigen Volkes, das
sonst als kalt und egoistisch berechnend verschrien ist, in der Hauptstadt des
"Krämer-Volkes"? Wahrlich, wer Gelegenheit hatte, Engländer aus ihren
Sommervergnügungsreisen auf dem Continent zu beobachten, wo sie ja be¬
kannter Maßen nichts weniger als Frohsinn und harmlose Heiterkeit, ge¬
schweige denn etwa Liebenswürdigkeit zur Schau tragen, und sie dann wieder
in England selbst, außerhalb der Geschäfte, bei ihren Vergnügungen, oder
gar bei Volksfesten sieht, der kann sich ob des Unterschiedes nicht genug
wundern. Aber wie England überhaupt das Land der Contrasie ist, so zeigt
sich dies auch hier wieder. Im Geschäft, besonders dem Fremden gegenüber,
und in der Fremde ist der Engländer egoistisch und kalt, aber ebenso wie er
in seinen vier Wänden voll Gemüth ist, wie da das eigene Heim seine tiefe
Seele zum Durchbruch kommen läßt, so kann auch nur in der Heimath die
Volksseele sich zeigen.


Grcnzvoten IV. 1874. 48

Spaziergängern stark belebt sind, die ihre Augen an den so mannichfaltigen
Erzeugnissen von Kunst und Industrie, die in den glänzenden Schaufenstern
ausgestellt sind, oder an dem schönen ewigen Grün der englischen Nasen und
Parks weiden.

Besonders der 9. November hatte Alt und Jung aus den Häusern auf
die Straßen gelockt. Dieser Tag ist bekanntlich der Anfang der jeweilig
einjährigen Amtsdauer des Lordmayor, und nach althergebrachter Sitte zieht
der neuerwählte Bürgermeister in feierlichem Aufzuge durch die Hauptstraßen
der City und von Westend. Obgleich nun der Zug selbst durchaus nicht
als sehr sehenswerth bezeichnet werden kann, — denn er besteht mit Aus¬
nahme einiger weniger, allerdings prächtiger und des reichen Londons wür¬
diger Staatswagen, aus ganz gewöhnlichen Equipagen, einigen Militair-
mustkchören, einer Unmasse von Fahnen der Londoner Korporationen und
den ganzen Zug einfassenden Husaren; — so. läßt sich doch kein Londoner
nehmen, seinen neuen gestrengen Herrn schon am ersten Tage seiner Amts¬
dauer von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, wobei er dann auch, wenn
nöthig, die erforderlichen Ausstellungen in Form von harmlosen Witzen gleich
an die richtigste Adresse befördert. Der einmal auf diese Weise in der löb¬
lichsten Absicht unterbrochene Arbeitstag wird dann im weiteren Verlaufe
gleich zum richtigen Volksfest und besonders Abends ergeht sich das Volk in
den festlich illuminirten Straßen bis spät in die Nacht hinein mit harmlosen
aber darum um so ergötzlicheren Scherzen. Man möchte denken, es wäre
Plötzlich Fasching geworden, die zahlreichen Schaaren, die Kasperletheater,
sonstige improvisirte Schaustellungen und ohrenzerreißende Concerte, natürlich
alles auf offener Straße — vereinigen sich um die Illusion möglichst vollstän¬
dig zu machen.

Und das Alles in London, in der Hauptstadt desjenigen Volkes, das
sonst als kalt und egoistisch berechnend verschrien ist, in der Hauptstadt des
»Krämer-Volkes"? Wahrlich, wer Gelegenheit hatte, Engländer aus ihren
Sommervergnügungsreisen auf dem Continent zu beobachten, wo sie ja be¬
kannter Maßen nichts weniger als Frohsinn und harmlose Heiterkeit, ge¬
schweige denn etwa Liebenswürdigkeit zur Schau tragen, und sie dann wieder
in England selbst, außerhalb der Geschäfte, bei ihren Vergnügungen, oder
gar bei Volksfesten sieht, der kann sich ob des Unterschiedes nicht genug
wundern. Aber wie England überhaupt das Land der Contrasie ist, so zeigt
sich dies auch hier wieder. Im Geschäft, besonders dem Fremden gegenüber,
und in der Fremde ist der Engländer egoistisch und kalt, aber ebenso wie er
in seinen vier Wänden voll Gemüth ist, wie da das eigene Heim seine tiefe
Seele zum Durchbruch kommen läßt, so kann auch nur in der Heimath die
Volksseele sich zeigen.


Grcnzvoten IV. 1874. 48
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[0381] Spaziergängern stark belebt sind, die ihre Augen an den so mannichfaltigen Erzeugnissen von Kunst und Industrie, die in den glänzenden Schaufenstern ausgestellt sind, oder an dem schönen ewigen Grün der englischen Nasen und Parks weiden. Besonders der 9. November hatte Alt und Jung aus den Häusern auf die Straßen gelockt. Dieser Tag ist bekanntlich der Anfang der jeweilig einjährigen Amtsdauer des Lordmayor, und nach althergebrachter Sitte zieht der neuerwählte Bürgermeister in feierlichem Aufzuge durch die Hauptstraßen der City und von Westend. Obgleich nun der Zug selbst durchaus nicht als sehr sehenswerth bezeichnet werden kann, — denn er besteht mit Aus¬ nahme einiger weniger, allerdings prächtiger und des reichen Londons wür¬ diger Staatswagen, aus ganz gewöhnlichen Equipagen, einigen Militair- mustkchören, einer Unmasse von Fahnen der Londoner Korporationen und den ganzen Zug einfassenden Husaren; — so. läßt sich doch kein Londoner nehmen, seinen neuen gestrengen Herrn schon am ersten Tage seiner Amts¬ dauer von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, wobei er dann auch, wenn nöthig, die erforderlichen Ausstellungen in Form von harmlosen Witzen gleich an die richtigste Adresse befördert. Der einmal auf diese Weise in der löb¬ lichsten Absicht unterbrochene Arbeitstag wird dann im weiteren Verlaufe gleich zum richtigen Volksfest und besonders Abends ergeht sich das Volk in den festlich illuminirten Straßen bis spät in die Nacht hinein mit harmlosen aber darum um so ergötzlicheren Scherzen. Man möchte denken, es wäre Plötzlich Fasching geworden, die zahlreichen Schaaren, die Kasperletheater, sonstige improvisirte Schaustellungen und ohrenzerreißende Concerte, natürlich alles auf offener Straße — vereinigen sich um die Illusion möglichst vollstän¬ dig zu machen. Und das Alles in London, in der Hauptstadt desjenigen Volkes, das sonst als kalt und egoistisch berechnend verschrien ist, in der Hauptstadt des »Krämer-Volkes"? Wahrlich, wer Gelegenheit hatte, Engländer aus ihren Sommervergnügungsreisen auf dem Continent zu beobachten, wo sie ja be¬ kannter Maßen nichts weniger als Frohsinn und harmlose Heiterkeit, ge¬ schweige denn etwa Liebenswürdigkeit zur Schau tragen, und sie dann wieder in England selbst, außerhalb der Geschäfte, bei ihren Vergnügungen, oder gar bei Volksfesten sieht, der kann sich ob des Unterschiedes nicht genug wundern. Aber wie England überhaupt das Land der Contrasie ist, so zeigt sich dies auch hier wieder. Im Geschäft, besonders dem Fremden gegenüber, und in der Fremde ist der Engländer egoistisch und kalt, aber ebenso wie er in seinen vier Wänden voll Gemüth ist, wie da das eigene Heim seine tiefe Seele zum Durchbruch kommen läßt, so kann auch nur in der Heimath die Volksseele sich zeigen. Grcnzvoten IV. 1874. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/381>, abgerufen am 27.07.2024.