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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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ehrliche gerade glatte Spitze hatte und völlig giftfrei ist, müssen sicherlich auch
sie zugeben. --

Die kleinen Erzählungen Mark Twain's, welche dieser Band vereinigt,
haben eigentlich alle einen satirischen Anflug. Sie geißeln alle, eine jede in ihrer
Weise, ein parlee'sches Nationallaster: die übertriebene Weltlust; die weitver¬
breitete Vervollkommnung in der Begabung für das Lügen, gegen welche
Münchhausen als armseliger ABC-Lügner erscheint; die Neigung seiner
Landsleute für sensationelle Stoffe; das allgemeine Behagen, mit dem drüben
Mordgeschichten in ihren abschreckendsten Details niedergeschrieben und gelesen
werden; die Schattenseiten der "Lady"-Erziehung und dergleichen mehr. Aber
diese Moral der Geschichte tritt vor dem leuchtenden wärmenden Humor des
Dichters so vollständig zurück, daß man bei der Lectüre niemals durch eine
zu enge Fühlung mit der Tendenz durchfröstelt wird. Einige Beispiele mögen
statt weiterer Bemerkungen folgen.

Die erste Erzählung, "Ilm Smiley's berühmter Springfrosch" schildert
uns die Symptome und den üblichen Verlauf der Wettkrankheit. Ilm Smiley
ist der vom Wettteufel Besessene. Er wettete auf Alles nur Mögliche, kaum
wurde was erwähnt, so erbot er sich, darauf zu wetten, dafür oder dagegen,
es war ihm Alles eins: auf Pferderennen, Hunde-, Katzen- und Hahnen¬
kämpfe. Wenn zwei Vögel auf einem Zaune saßen, so bot er eine Wette
an, welcher zuletzt wegfliegen würde. Oder wenn ein Gottesdienst unter
freiem Himmel mit mehreren Predigern abgehalten wurde, so war er regel¬
mäßig von der Partie, um auf den Pastor Walker zu wetten, den er für
den besten Ernährer hier herum hielt. . . Es war ihm Alles Wurst, wenn
er nur wetten konnte, der Höllenkerl. Pastor Walkers Frau lag einmal eine
gute Weile totkrank darnieder, und es schien, als ob man sie nicht durch¬
bringen würde. Da kommt er eines Morgens herein, und Smiley fragt,
wie's ihr gehen thut, und der Pastor sagt, es ginge erheblich besser. Gott
sei Dank für seine unendliche Barmherzigkeit -- und es machte sich so gut
mit ihr, daß sie, wenn die Vorsehung ihren Segen dazu gäbe, wohl noch
wieder gesund werden würde -- und was sagt da dieser Smiley, ohne sich
lange zu besinnen? "Na, gut, ich riskire dritthalb Dollar, daß sie nicht
wieder wird, Punctum!"

Ilm Smiley hielt sich aber auch verschiedene Hausthiere, welche ihn in
die Lage versetzten, die Bedürfnisse seines Wettgenies nicht dem geistlosen
Zufall preiszugeben. Da war die "Fünfzehn-Minuten-Mähre", sein Wett¬
pferd, welches in jedem Rennen durch verzweifeltes Hetzen und Strampeln
Husten, Niesen, Nasenschnauben und Staubaufwirbeln immer eine Kopflänge
eher am Ziel anlangte als jedes andere Pferd. Da war Andrew Jackson
seine kleine Bulldogge, der er viel Geld verdankte. Denn sie hatte eine eigen-


ehrliche gerade glatte Spitze hatte und völlig giftfrei ist, müssen sicherlich auch
sie zugeben. —

Die kleinen Erzählungen Mark Twain's, welche dieser Band vereinigt,
haben eigentlich alle einen satirischen Anflug. Sie geißeln alle, eine jede in ihrer
Weise, ein parlee'sches Nationallaster: die übertriebene Weltlust; die weitver¬
breitete Vervollkommnung in der Begabung für das Lügen, gegen welche
Münchhausen als armseliger ABC-Lügner erscheint; die Neigung seiner
Landsleute für sensationelle Stoffe; das allgemeine Behagen, mit dem drüben
Mordgeschichten in ihren abschreckendsten Details niedergeschrieben und gelesen
werden; die Schattenseiten der „Lady"-Erziehung und dergleichen mehr. Aber
diese Moral der Geschichte tritt vor dem leuchtenden wärmenden Humor des
Dichters so vollständig zurück, daß man bei der Lectüre niemals durch eine
zu enge Fühlung mit der Tendenz durchfröstelt wird. Einige Beispiele mögen
statt weiterer Bemerkungen folgen.

Die erste Erzählung, „Ilm Smiley's berühmter Springfrosch" schildert
uns die Symptome und den üblichen Verlauf der Wettkrankheit. Ilm Smiley
ist der vom Wettteufel Besessene. Er wettete auf Alles nur Mögliche, kaum
wurde was erwähnt, so erbot er sich, darauf zu wetten, dafür oder dagegen,
es war ihm Alles eins: auf Pferderennen, Hunde-, Katzen- und Hahnen¬
kämpfe. Wenn zwei Vögel auf einem Zaune saßen, so bot er eine Wette
an, welcher zuletzt wegfliegen würde. Oder wenn ein Gottesdienst unter
freiem Himmel mit mehreren Predigern abgehalten wurde, so war er regel¬
mäßig von der Partie, um auf den Pastor Walker zu wetten, den er für
den besten Ernährer hier herum hielt. . . Es war ihm Alles Wurst, wenn
er nur wetten konnte, der Höllenkerl. Pastor Walkers Frau lag einmal eine
gute Weile totkrank darnieder, und es schien, als ob man sie nicht durch¬
bringen würde. Da kommt er eines Morgens herein, und Smiley fragt,
wie's ihr gehen thut, und der Pastor sagt, es ginge erheblich besser. Gott
sei Dank für seine unendliche Barmherzigkeit — und es machte sich so gut
mit ihr, daß sie, wenn die Vorsehung ihren Segen dazu gäbe, wohl noch
wieder gesund werden würde — und was sagt da dieser Smiley, ohne sich
lange zu besinnen? „Na, gut, ich riskire dritthalb Dollar, daß sie nicht
wieder wird, Punctum!"

Ilm Smiley hielt sich aber auch verschiedene Hausthiere, welche ihn in
die Lage versetzten, die Bedürfnisse seines Wettgenies nicht dem geistlosen
Zufall preiszugeben. Da war die „Fünfzehn-Minuten-Mähre", sein Wett¬
pferd, welches in jedem Rennen durch verzweifeltes Hetzen und Strampeln
Husten, Niesen, Nasenschnauben und Staubaufwirbeln immer eine Kopflänge
eher am Ziel anlangte als jedes andere Pferd. Da war Andrew Jackson
seine kleine Bulldogge, der er viel Geld verdankte. Denn sie hatte eine eigen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/312>, abgerufen am 27.07.2024.