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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Hinzunahme der durch mich beschafften Erweiterungen; seine Arbeit ist unter-
nommen mit vollständiger Berücksichtigung und Kenntniß der bisherigen Be-
arbeitungen und Versuche; seine Absicht ist eine rein historische, ohne jeden
Nebengedanken. Aber nichts destoweniger unterscheidet sich der Charakter sei
nes historischen Don Carlos nicht gerade sehr viel mehr von demjenigen Bilde,
das Schiller idealtsirt hat. In der äußeren Geschichte des Helden weicht
Schmidt von Gansart und mir kaum wesentlich ab; die Katastrophe des 18.
Januar 1568 erzählt er in allem wesentlichen in Uebereinstimmung mit uns;
in der Auffassung und Beurtheilung der letzten Periode, jener Zeit zwischen
Gefangensetzung und Tod des. Prinzen (19. Januar bis 24. Juli 1568)
schließt er sich theilweise meinen früheren Ausführungen an. Also nicht da¬
rin beruhen die Differenzen. Wohl aber tritt Schmidt bei der Frage über
den Charakter des Don Carlos und den Grund seiner Beseitigung durch Kö¬
nig Philipp auf den Boden der früheren, durch die archivalische Forschung
wie man vielleicht hoffen durfte, beseitigten Auffassung zurück.

Ich wiederhole, nicht in principiellen Widerspruche, zur Forschung an
sich, sondern mit Benutzung alles zu Tage geförderten Materiales langt er
bei diesen Endergebnissen an; gerade indem er die Waffen der Geschichtswis¬
senschaft, die sie zum Umsturz des Romanes gebraucht hat. in etwas anderer
Weise schwingt, baut er in engster Nachbarschaft beim Romane sein neues
Gebäude auf. Indem er die Liebesintrigue zwischen Königin Elisabeth und
Don Carlos als eine bloße Erfindung preisgiebt, hält er an der "gegenseiti-
SM innigen Herzensneigung," an dem "inneren Seelenanschluß" der beiden ju-
gendlichen Gemüther fest. Und den Grund zur Katastrophe sieht er in der aus
principiellen Gegensatze entstandenen Entfremdung zwischen Vater und Sohn,
in der Auflehnung des Prinzen wider das ganze politisch-kirchliche System
seines Vaters. Nicht sowohl ein Charakterfehler oder eine Verkehrtheit in
Don Carlos wäre sonach anzunehmen, vielmehr würden ihm als dem Ver¬
treter freierer Meinungen die Sympathien erleuchteterer Jahrhunderte zufallen
Müssen; unzweifelhaft hätte der heutige Historiker für den Prinzen gegen den
^ter, dessen Scheußlichkeit mehr wie einmal der Verachtung und dem Ab¬
scheu der Leser gekennzeichnet wird, Partei zu nehmen. Nicht unser Mitleid,
sondern unsere Bewunderung würde der Prinz verdienen.

Nun ist mir keinen Augenblik darüber ein Zweifel möglich, welche von
diesen beiden Charakterschilderungen, die von Schmidt oder'die von mir ge¬
gebene, die Eigenschaft besitzt, den gebildeten Lesern in Deutschland am be-
^n zu gefallen. Ein Historiker wissenschaftlichen Rufes, ein strenger Forscher
besten Namens giebt unserem Publikum das Recht zurück, das einige unlie¬
benswürdige Kritikaster ihm bestreiten wollten, sich für den ihm in der Dich-
^Ng liebgewordenen Infanten als einen geschichtlich beglaubigten Märtyrer


Hinzunahme der durch mich beschafften Erweiterungen; seine Arbeit ist unter-
nommen mit vollständiger Berücksichtigung und Kenntniß der bisherigen Be-
arbeitungen und Versuche; seine Absicht ist eine rein historische, ohne jeden
Nebengedanken. Aber nichts destoweniger unterscheidet sich der Charakter sei
nes historischen Don Carlos nicht gerade sehr viel mehr von demjenigen Bilde,
das Schiller idealtsirt hat. In der äußeren Geschichte des Helden weicht
Schmidt von Gansart und mir kaum wesentlich ab; die Katastrophe des 18.
Januar 1568 erzählt er in allem wesentlichen in Uebereinstimmung mit uns;
in der Auffassung und Beurtheilung der letzten Periode, jener Zeit zwischen
Gefangensetzung und Tod des. Prinzen (19. Januar bis 24. Juli 1568)
schließt er sich theilweise meinen früheren Ausführungen an. Also nicht da¬
rin beruhen die Differenzen. Wohl aber tritt Schmidt bei der Frage über
den Charakter des Don Carlos und den Grund seiner Beseitigung durch Kö¬
nig Philipp auf den Boden der früheren, durch die archivalische Forschung
wie man vielleicht hoffen durfte, beseitigten Auffassung zurück.

Ich wiederhole, nicht in principiellen Widerspruche, zur Forschung an
sich, sondern mit Benutzung alles zu Tage geförderten Materiales langt er
bei diesen Endergebnissen an; gerade indem er die Waffen der Geschichtswis¬
senschaft, die sie zum Umsturz des Romanes gebraucht hat. in etwas anderer
Weise schwingt, baut er in engster Nachbarschaft beim Romane sein neues
Gebäude auf. Indem er die Liebesintrigue zwischen Königin Elisabeth und
Don Carlos als eine bloße Erfindung preisgiebt, hält er an der „gegenseiti-
SM innigen Herzensneigung," an dem „inneren Seelenanschluß" der beiden ju-
gendlichen Gemüther fest. Und den Grund zur Katastrophe sieht er in der aus
principiellen Gegensatze entstandenen Entfremdung zwischen Vater und Sohn,
in der Auflehnung des Prinzen wider das ganze politisch-kirchliche System
seines Vaters. Nicht sowohl ein Charakterfehler oder eine Verkehrtheit in
Don Carlos wäre sonach anzunehmen, vielmehr würden ihm als dem Ver¬
treter freierer Meinungen die Sympathien erleuchteterer Jahrhunderte zufallen
Müssen; unzweifelhaft hätte der heutige Historiker für den Prinzen gegen den
^ter, dessen Scheußlichkeit mehr wie einmal der Verachtung und dem Ab¬
scheu der Leser gekennzeichnet wird, Partei zu nehmen. Nicht unser Mitleid,
sondern unsere Bewunderung würde der Prinz verdienen.

Nun ist mir keinen Augenblik darüber ein Zweifel möglich, welche von
diesen beiden Charakterschilderungen, die von Schmidt oder'die von mir ge¬
gebene, die Eigenschaft besitzt, den gebildeten Lesern in Deutschland am be-
^n zu gefallen. Ein Historiker wissenschaftlichen Rufes, ein strenger Forscher
besten Namens giebt unserem Publikum das Recht zurück, das einige unlie¬
benswürdige Kritikaster ihm bestreiten wollten, sich für den ihm in der Dich-
^Ng liebgewordenen Infanten als einen geschichtlich beglaubigten Märtyrer


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[0249] Hinzunahme der durch mich beschafften Erweiterungen; seine Arbeit ist unter- nommen mit vollständiger Berücksichtigung und Kenntniß der bisherigen Be- arbeitungen und Versuche; seine Absicht ist eine rein historische, ohne jeden Nebengedanken. Aber nichts destoweniger unterscheidet sich der Charakter sei nes historischen Don Carlos nicht gerade sehr viel mehr von demjenigen Bilde, das Schiller idealtsirt hat. In der äußeren Geschichte des Helden weicht Schmidt von Gansart und mir kaum wesentlich ab; die Katastrophe des 18. Januar 1568 erzählt er in allem wesentlichen in Uebereinstimmung mit uns; in der Auffassung und Beurtheilung der letzten Periode, jener Zeit zwischen Gefangensetzung und Tod des. Prinzen (19. Januar bis 24. Juli 1568) schließt er sich theilweise meinen früheren Ausführungen an. Also nicht da¬ rin beruhen die Differenzen. Wohl aber tritt Schmidt bei der Frage über den Charakter des Don Carlos und den Grund seiner Beseitigung durch Kö¬ nig Philipp auf den Boden der früheren, durch die archivalische Forschung wie man vielleicht hoffen durfte, beseitigten Auffassung zurück. Ich wiederhole, nicht in principiellen Widerspruche, zur Forschung an sich, sondern mit Benutzung alles zu Tage geförderten Materiales langt er bei diesen Endergebnissen an; gerade indem er die Waffen der Geschichtswis¬ senschaft, die sie zum Umsturz des Romanes gebraucht hat. in etwas anderer Weise schwingt, baut er in engster Nachbarschaft beim Romane sein neues Gebäude auf. Indem er die Liebesintrigue zwischen Königin Elisabeth und Don Carlos als eine bloße Erfindung preisgiebt, hält er an der „gegenseiti- SM innigen Herzensneigung," an dem „inneren Seelenanschluß" der beiden ju- gendlichen Gemüther fest. Und den Grund zur Katastrophe sieht er in der aus principiellen Gegensatze entstandenen Entfremdung zwischen Vater und Sohn, in der Auflehnung des Prinzen wider das ganze politisch-kirchliche System seines Vaters. Nicht sowohl ein Charakterfehler oder eine Verkehrtheit in Don Carlos wäre sonach anzunehmen, vielmehr würden ihm als dem Ver¬ treter freierer Meinungen die Sympathien erleuchteterer Jahrhunderte zufallen Müssen; unzweifelhaft hätte der heutige Historiker für den Prinzen gegen den ^ter, dessen Scheußlichkeit mehr wie einmal der Verachtung und dem Ab¬ scheu der Leser gekennzeichnet wird, Partei zu nehmen. Nicht unser Mitleid, sondern unsere Bewunderung würde der Prinz verdienen. Nun ist mir keinen Augenblik darüber ein Zweifel möglich, welche von diesen beiden Charakterschilderungen, die von Schmidt oder'die von mir ge¬ gebene, die Eigenschaft besitzt, den gebildeten Lesern in Deutschland am be- ^n zu gefallen. Ein Historiker wissenschaftlichen Rufes, ein strenger Forscher besten Namens giebt unserem Publikum das Recht zurück, das einige unlie¬ benswürdige Kritikaster ihm bestreiten wollten, sich für den ihm in der Dich- ^Ng liebgewordenen Infanten als einen geschichtlich beglaubigten Märtyrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/249>, abgerufen am 27.07.2024.