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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Don Carlos festgestellt und das Bild des historischen zu umzeichnen versucht
haben. Bekanntlich beruht Schiller's Drama auf einem historischen Roman
des 17. Jahrhunderts, dem Büchlein des Franzosen Saint-Real Don
Carlos, Nouvkile Kistoriyue 1692. An die hier vorgetragene Erzählung
glaubt kein Mensch mehr: in der Zeit, in welcher die öffentliche Meinung
von Europa durch die französische Literatur beherrscht und von französischen
Absichten geleitet war, in der es den Franzosen daran lag, gegen die dereinst
so mächtigen Spanier Gegensatz und Abscheu zu erregen, in jener Zeit
zimmerte aus einzelnen überlieferten Anekdoten und Zügen Saint-Real die
bekannte Geschichte zusammen von dem Liebesverhältnis^ des Prinzen Don
Carlos zu seiner Stiefmutter, von dem feindlichen Gegensatz zwischen Vater
und Sohn und von der durch König Philipp herbeigeführten Vernichtung des
gefangen gesetzten Infanten. Nun hatte aberdings schon 1817 der Spanier
Llorente diese Ueberlieferung erschüttert und ihren Widerspruch gegen authen¬
tische Documente gezeigt. Nachher war es das Verdienst Leopold von
Ranke's 1829 die wichtigsten und bedeutendsten Controverspunkte dieses
Gegenstandes erörtert zu haben, indem er die spanische und die antispanische
Literatur einander gegenüberstellte und an sicheren Akten sie beide prüfte (Zur
Geschichte des Don Carlos, in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Bd. 46).
Damit war freilich die Frage selbst immer noch nicht entschieden; es blieben
noch viele Räthsel übrig. Auch nachdem der Liebesroman aus der Geschichte
des Don Carlos getilgt und der prinzipielle Gegensatz des für die Volks¬
rechte begeisterten Prinzen und des tyrannischen Königs nahezu ausgelöscht
war, auch dann blieben immer noch der innere Charakter des Don Carlos,
die Ursachen seiner Einsperrung und seines Unterganges zu erforschen. Da
haben sich nun deutsche und außerdeutsche Forscher mit diesem Probleme
beschäftigt -- Raumer und Helfferich und Warnkönig, Prescott
und de Castro und Lasuente, Mouy und Gansart -- unter allen
anderen aber ragt das große Werk Gansart's hervor (von varlos et
II. 1863 in 2 Bänden). Das spanische Archiv von Simankas hat
Gansart gründlich benutzt und durchforscht; außerdem aber noch die Samm¬
lungen in Paris, Wien, Venedig, Florenz, Turin und London zu Rathe
gezogen. Er hat eine große Fülle von Notizen zusammengetragen; man
kann sagen. durch ihn ist das historische Fundament für unsere Kenntnisse
und Urtheile dauerhaft gelegt: eine jede spätere Erörterung wird vornäm¬
lich mit diesem Materials Gansart's zu operiren haben.

Auf Grund dieser Nachrichten konnte man ein Doppeltes für beseitigt
halten: einmal die dichterische oder romanhafte Annahme eines Liebesver¬
hältnisses zwischen Stiefmutter und Stiefsohn, sodann aber auch die oft
zur Erklärung des ganzen Räthsels geäußerte Vermuthung, der spanische


Don Carlos festgestellt und das Bild des historischen zu umzeichnen versucht
haben. Bekanntlich beruht Schiller's Drama auf einem historischen Roman
des 17. Jahrhunderts, dem Büchlein des Franzosen Saint-Real Don
Carlos, Nouvkile Kistoriyue 1692. An die hier vorgetragene Erzählung
glaubt kein Mensch mehr: in der Zeit, in welcher die öffentliche Meinung
von Europa durch die französische Literatur beherrscht und von französischen
Absichten geleitet war, in der es den Franzosen daran lag, gegen die dereinst
so mächtigen Spanier Gegensatz und Abscheu zu erregen, in jener Zeit
zimmerte aus einzelnen überlieferten Anekdoten und Zügen Saint-Real die
bekannte Geschichte zusammen von dem Liebesverhältnis^ des Prinzen Don
Carlos zu seiner Stiefmutter, von dem feindlichen Gegensatz zwischen Vater
und Sohn und von der durch König Philipp herbeigeführten Vernichtung des
gefangen gesetzten Infanten. Nun hatte aberdings schon 1817 der Spanier
Llorente diese Ueberlieferung erschüttert und ihren Widerspruch gegen authen¬
tische Documente gezeigt. Nachher war es das Verdienst Leopold von
Ranke's 1829 die wichtigsten und bedeutendsten Controverspunkte dieses
Gegenstandes erörtert zu haben, indem er die spanische und die antispanische
Literatur einander gegenüberstellte und an sicheren Akten sie beide prüfte (Zur
Geschichte des Don Carlos, in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Bd. 46).
Damit war freilich die Frage selbst immer noch nicht entschieden; es blieben
noch viele Räthsel übrig. Auch nachdem der Liebesroman aus der Geschichte
des Don Carlos getilgt und der prinzipielle Gegensatz des für die Volks¬
rechte begeisterten Prinzen und des tyrannischen Königs nahezu ausgelöscht
war, auch dann blieben immer noch der innere Charakter des Don Carlos,
die Ursachen seiner Einsperrung und seines Unterganges zu erforschen. Da
haben sich nun deutsche und außerdeutsche Forscher mit diesem Probleme
beschäftigt — Raumer und Helfferich und Warnkönig, Prescott
und de Castro und Lasuente, Mouy und Gansart — unter allen
anderen aber ragt das große Werk Gansart's hervor (von varlos et
II. 1863 in 2 Bänden). Das spanische Archiv von Simankas hat
Gansart gründlich benutzt und durchforscht; außerdem aber noch die Samm¬
lungen in Paris, Wien, Venedig, Florenz, Turin und London zu Rathe
gezogen. Er hat eine große Fülle von Notizen zusammengetragen; man
kann sagen. durch ihn ist das historische Fundament für unsere Kenntnisse
und Urtheile dauerhaft gelegt: eine jede spätere Erörterung wird vornäm¬
lich mit diesem Materials Gansart's zu operiren haben.

Auf Grund dieser Nachrichten konnte man ein Doppeltes für beseitigt
halten: einmal die dichterische oder romanhafte Annahme eines Liebesver¬
hältnisses zwischen Stiefmutter und Stiefsohn, sodann aber auch die oft
zur Erklärung des ganzen Räthsels geäußerte Vermuthung, der spanische


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[0246] Don Carlos festgestellt und das Bild des historischen zu umzeichnen versucht haben. Bekanntlich beruht Schiller's Drama auf einem historischen Roman des 17. Jahrhunderts, dem Büchlein des Franzosen Saint-Real Don Carlos, Nouvkile Kistoriyue 1692. An die hier vorgetragene Erzählung glaubt kein Mensch mehr: in der Zeit, in welcher die öffentliche Meinung von Europa durch die französische Literatur beherrscht und von französischen Absichten geleitet war, in der es den Franzosen daran lag, gegen die dereinst so mächtigen Spanier Gegensatz und Abscheu zu erregen, in jener Zeit zimmerte aus einzelnen überlieferten Anekdoten und Zügen Saint-Real die bekannte Geschichte zusammen von dem Liebesverhältnis^ des Prinzen Don Carlos zu seiner Stiefmutter, von dem feindlichen Gegensatz zwischen Vater und Sohn und von der durch König Philipp herbeigeführten Vernichtung des gefangen gesetzten Infanten. Nun hatte aberdings schon 1817 der Spanier Llorente diese Ueberlieferung erschüttert und ihren Widerspruch gegen authen¬ tische Documente gezeigt. Nachher war es das Verdienst Leopold von Ranke's 1829 die wichtigsten und bedeutendsten Controverspunkte dieses Gegenstandes erörtert zu haben, indem er die spanische und die antispanische Literatur einander gegenüberstellte und an sicheren Akten sie beide prüfte (Zur Geschichte des Don Carlos, in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Bd. 46). Damit war freilich die Frage selbst immer noch nicht entschieden; es blieben noch viele Räthsel übrig. Auch nachdem der Liebesroman aus der Geschichte des Don Carlos getilgt und der prinzipielle Gegensatz des für die Volks¬ rechte begeisterten Prinzen und des tyrannischen Königs nahezu ausgelöscht war, auch dann blieben immer noch der innere Charakter des Don Carlos, die Ursachen seiner Einsperrung und seines Unterganges zu erforschen. Da haben sich nun deutsche und außerdeutsche Forscher mit diesem Probleme beschäftigt — Raumer und Helfferich und Warnkönig, Prescott und de Castro und Lasuente, Mouy und Gansart — unter allen anderen aber ragt das große Werk Gansart's hervor (von varlos et II. 1863 in 2 Bänden). Das spanische Archiv von Simankas hat Gansart gründlich benutzt und durchforscht; außerdem aber noch die Samm¬ lungen in Paris, Wien, Venedig, Florenz, Turin und London zu Rathe gezogen. Er hat eine große Fülle von Notizen zusammengetragen; man kann sagen. durch ihn ist das historische Fundament für unsere Kenntnisse und Urtheile dauerhaft gelegt: eine jede spätere Erörterung wird vornäm¬ lich mit diesem Materials Gansart's zu operiren haben. Auf Grund dieser Nachrichten konnte man ein Doppeltes für beseitigt halten: einmal die dichterische oder romanhafte Annahme eines Liebesver¬ hältnisses zwischen Stiefmutter und Stiefsohn, sodann aber auch die oft zur Erklärung des ganzen Räthsels geäußerte Vermuthung, der spanische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/246>, abgerufen am 27.07.2024.