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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band.

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Minister oder ein dem Ministerrang gleichstehender Staatsbeamter im Gefängniß
gehalten worden, ist, soviel wir wissen, seit dem Sturz des Grafen Dankel¬
mann, des Ministers des letzten Kurfürsten, der der erste König wurde, nicht
vorgekommen. Welch eine Sensationsnachricht sür die politische Welt, für
ihre Eingeweihten und Laien, für die Spieler auf der Staats-Bühne wie
für die Galerie, als auf den telegraphischen Drähten die Verhaftung des
Grafen Harry Arnim am 4. Oktober Europa durchlief! -- Wenn in einer
Zunft ein Meister auftritt, der wieder einmal den Schlendrian zerreißt und
die Träger desselben in dunkeln Schatten stellt, so wird er grimmig gemeldet,
das ist eine alte Erfahrung. Das unzünftige Publikum aber spaltet sich in
die zwei feindlichen Chöre, von denen der eine das Ungewöhnliche liebt und
preist, weil es das Ungewöhnliche ist, der andere es anfeindet und anschwärzt,
um das Recht und die Macht des Gewöhnlichen geltend zu machen. Als die
Sensationsnachricht kam, da rief der Chor der Bewunderer, dessen Stimmen
aber diesmal sehr zerstreut und schwach erklangen: Immer derselbe gewaltige
Mann, der bald in der Nähe, bald in der Ferne einen der Feinde zu Boden
schlägt, die ihm unaufhörlich erstehen. Dagegen erhob sich wie ein ver¬
worrenes Gebrause der Chor des Neides. Er kann keine Selbständigkeit
mehr ertragen, weder in der Fremde noch im eigenen Lande, keine eigene
Meinung und keinen unabhängigen Mann; dies muß der Anfang oder we¬
nigstens der Vorbote des Anfangs vom Ende sein! Dazu nun die officiösen
Anleitungen, die nicht ausbleiben konnten, um die erregte, in den absonder¬
lichsten Vermuthungen sich ergehende öffentliche Meinung zu orientiren. Diese
Anleitungen suchten die Miene anzunehmen, als wäre der Reichskanzler gar
nicht im Spiele; was in einem gewissen Sinne übrigens ganz richtig sein
wird. Daran aber, daß solche Dinge im deutschen Reich vorgehen können
unter der lediglich contemplativen Assistenz des Kanzlers, davon würde man
die öffentliche Meinung wahrscheinlich nicht überzeugen, auch wenn eine solche
Erscheinung einmal zur Wahrheit werden sollte. Man würde darin höchstens
aus andere Weise den Anfang vom Ende erblicken. Und weil man dies nicht
kann, wo man möchte, und sür unmöglich hält, wo man es nicht wünscht,
so begegneten die offiziösen Belehrungen den stärksten Zweifeln und überall
wenigstens der Annahme, daß in ihnen der Kern der Sache verschwiegen
bliebe.

Heute sind es drei Wochen, daß der Graf von seinem Gute in das Ge¬
fängniß der berliner Stadtvoigtei abgeführt wurde, das er seitdem mit dem
Gewahrsam in der Charire vertauscht hat. Suchen wir dasjenige zusammen¬
zufassen, was in dieser Zeit in hinlänglich glaubwürdiger Gestalt an die
Oeffentlichkeit gekommen ist, um dem Verständniß des befremdlichen Vorfalles
sichere Wege zu bahnen.


Minister oder ein dem Ministerrang gleichstehender Staatsbeamter im Gefängniß
gehalten worden, ist, soviel wir wissen, seit dem Sturz des Grafen Dankel¬
mann, des Ministers des letzten Kurfürsten, der der erste König wurde, nicht
vorgekommen. Welch eine Sensationsnachricht sür die politische Welt, für
ihre Eingeweihten und Laien, für die Spieler auf der Staats-Bühne wie
für die Galerie, als auf den telegraphischen Drähten die Verhaftung des
Grafen Harry Arnim am 4. Oktober Europa durchlief! — Wenn in einer
Zunft ein Meister auftritt, der wieder einmal den Schlendrian zerreißt und
die Träger desselben in dunkeln Schatten stellt, so wird er grimmig gemeldet,
das ist eine alte Erfahrung. Das unzünftige Publikum aber spaltet sich in
die zwei feindlichen Chöre, von denen der eine das Ungewöhnliche liebt und
preist, weil es das Ungewöhnliche ist, der andere es anfeindet und anschwärzt,
um das Recht und die Macht des Gewöhnlichen geltend zu machen. Als die
Sensationsnachricht kam, da rief der Chor der Bewunderer, dessen Stimmen
aber diesmal sehr zerstreut und schwach erklangen: Immer derselbe gewaltige
Mann, der bald in der Nähe, bald in der Ferne einen der Feinde zu Boden
schlägt, die ihm unaufhörlich erstehen. Dagegen erhob sich wie ein ver¬
worrenes Gebrause der Chor des Neides. Er kann keine Selbständigkeit
mehr ertragen, weder in der Fremde noch im eigenen Lande, keine eigene
Meinung und keinen unabhängigen Mann; dies muß der Anfang oder we¬
nigstens der Vorbote des Anfangs vom Ende sein! Dazu nun die officiösen
Anleitungen, die nicht ausbleiben konnten, um die erregte, in den absonder¬
lichsten Vermuthungen sich ergehende öffentliche Meinung zu orientiren. Diese
Anleitungen suchten die Miene anzunehmen, als wäre der Reichskanzler gar
nicht im Spiele; was in einem gewissen Sinne übrigens ganz richtig sein
wird. Daran aber, daß solche Dinge im deutschen Reich vorgehen können
unter der lediglich contemplativen Assistenz des Kanzlers, davon würde man
die öffentliche Meinung wahrscheinlich nicht überzeugen, auch wenn eine solche
Erscheinung einmal zur Wahrheit werden sollte. Man würde darin höchstens
aus andere Weise den Anfang vom Ende erblicken. Und weil man dies nicht
kann, wo man möchte, und sür unmöglich hält, wo man es nicht wünscht,
so begegneten die offiziösen Belehrungen den stärksten Zweifeln und überall
wenigstens der Annahme, daß in ihnen der Kern der Sache verschwiegen
bliebe.

Heute sind es drei Wochen, daß der Graf von seinem Gute in das Ge¬
fängniß der berliner Stadtvoigtei abgeführt wurde, das er seitdem mit dem
Gewahrsam in der Charire vertauscht hat. Suchen wir dasjenige zusammen¬
zufassen, was in dieser Zeit in hinlänglich glaubwürdiger Gestalt an die
Oeffentlichkeit gekommen ist, um dem Verständniß des befremdlichen Vorfalles
sichere Wege zu bahnen.


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[0199] Minister oder ein dem Ministerrang gleichstehender Staatsbeamter im Gefängniß gehalten worden, ist, soviel wir wissen, seit dem Sturz des Grafen Dankel¬ mann, des Ministers des letzten Kurfürsten, der der erste König wurde, nicht vorgekommen. Welch eine Sensationsnachricht sür die politische Welt, für ihre Eingeweihten und Laien, für die Spieler auf der Staats-Bühne wie für die Galerie, als auf den telegraphischen Drähten die Verhaftung des Grafen Harry Arnim am 4. Oktober Europa durchlief! — Wenn in einer Zunft ein Meister auftritt, der wieder einmal den Schlendrian zerreißt und die Träger desselben in dunkeln Schatten stellt, so wird er grimmig gemeldet, das ist eine alte Erfahrung. Das unzünftige Publikum aber spaltet sich in die zwei feindlichen Chöre, von denen der eine das Ungewöhnliche liebt und preist, weil es das Ungewöhnliche ist, der andere es anfeindet und anschwärzt, um das Recht und die Macht des Gewöhnlichen geltend zu machen. Als die Sensationsnachricht kam, da rief der Chor der Bewunderer, dessen Stimmen aber diesmal sehr zerstreut und schwach erklangen: Immer derselbe gewaltige Mann, der bald in der Nähe, bald in der Ferne einen der Feinde zu Boden schlägt, die ihm unaufhörlich erstehen. Dagegen erhob sich wie ein ver¬ worrenes Gebrause der Chor des Neides. Er kann keine Selbständigkeit mehr ertragen, weder in der Fremde noch im eigenen Lande, keine eigene Meinung und keinen unabhängigen Mann; dies muß der Anfang oder we¬ nigstens der Vorbote des Anfangs vom Ende sein! Dazu nun die officiösen Anleitungen, die nicht ausbleiben konnten, um die erregte, in den absonder¬ lichsten Vermuthungen sich ergehende öffentliche Meinung zu orientiren. Diese Anleitungen suchten die Miene anzunehmen, als wäre der Reichskanzler gar nicht im Spiele; was in einem gewissen Sinne übrigens ganz richtig sein wird. Daran aber, daß solche Dinge im deutschen Reich vorgehen können unter der lediglich contemplativen Assistenz des Kanzlers, davon würde man die öffentliche Meinung wahrscheinlich nicht überzeugen, auch wenn eine solche Erscheinung einmal zur Wahrheit werden sollte. Man würde darin höchstens aus andere Weise den Anfang vom Ende erblicken. Und weil man dies nicht kann, wo man möchte, und sür unmöglich hält, wo man es nicht wünscht, so begegneten die offiziösen Belehrungen den stärksten Zweifeln und überall wenigstens der Annahme, daß in ihnen der Kern der Sache verschwiegen bliebe. Heute sind es drei Wochen, daß der Graf von seinem Gute in das Ge¬ fängniß der berliner Stadtvoigtei abgeführt wurde, das er seitdem mit dem Gewahrsam in der Charire vertauscht hat. Suchen wir dasjenige zusammen¬ zufassen, was in dieser Zeit in hinlänglich glaubwürdiger Gestalt an die Oeffentlichkeit gekommen ist, um dem Verständniß des befremdlichen Vorfalles sichere Wege zu bahnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359154/199>, abgerufen am 29.12.2024.