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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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sein Thun und Lassen in seine Brust zu legen, so mußte diese Richtung auf
Freiheit und Selbständigkeit auch in den Völkerindividualitäten zum Durch¬
bruch kommen: nicht als ob der Humanismus an sich ein staatenbildendes
Princip wäre, sondern deshalb, weil das Volk, dessen Bildung er als
Reformprincip der Gegenwart überlieferte, in der Pflege der Staats- und
Rechtsidee seinen höchsten weltgeschichtlichen Beruf erfüllt hatte.

Es ist aber dem Gelehrten und Dichter nicht gegeben, unmittelbar
Nationen zu einigen und Staaten zu gründen. Seine Wirkung ist nur
mittelbar; er arbeitet dem Staatsmann vor, indem er in die Massen die
Keime der Bildung senkt, dem Volksthum einen geistigen Gehalt bietet, das
Bewußtsein der idealen Einheit weckt und nährt, welche die feste Grundlage
der politischen Einheit ist. Die Gemeinsamkeit der Volkssprache allein ist kein
genügender Schutz des Volksthums; die Volkssprache geht in Mundarten
auseinander, die sich immer weiter von einander entfernen, wenn nicht eine
gebildete, in literarischen Schöpfungen stetig sich entwickelnde Schriftsprache sich
als einigendes Band um die Dialekte schlingt, ihrer Mißbildung zu selbst¬
ständigen Idiomen Schranken setzt und durch ihre Vermittlung einen gemein¬
samen Gedankengehalt, ein eigenthümliches Geistesleben in der Nation schafft.
Das ist in den Zeiten politischer Zerrüttung die nationale Aufgabe vor
Allem des Dichters und durch die glänzende Lösung dieser Aufgabe haben
sich die drei großen italienischen Dichter des 14. Jahrhunderts um ihr Vater¬
land' ein unsterbliches Verdienst erworben.

Und vielleicht nimmt unter den dreien , soweit es sich um die nationale
Bedeutung handelt, Petrarca als Schöpfer der italienischen Lyrik, der er das
eigenthümliche Gepräge seines Genius aufgedrückt hat, die erste Stelle ein.
Dante steht unnahbar auf einsamer steiler Höhe; sein unsterbliches Werk ist
so durchaus eigenthümlich, so einzig in seiner Art, es ist so dunkel, es nimmt
sür sein Verständniß ein so tiefes Studium in Anspruch, daß es weder der
Ausgangspunkt für eine neue dichterische Entwickelung werden, noch über die
Kreise der Höchstgebildeten hinaus, als Eigenthum in Fleisch und Blut des
Volkes übergehen konnte. Dante hat ein unvergängliches Kunstwerk, aber
keine neue Kunstform geschaffen, wie Petrarca, der es verstand, seinen
Empfindungen und Gefühlen einen Ausdruck zu geben, der für alle seine
Nachfolger auf dem Gebiete der Lyrik, auch wenn sie nicht Nachahmer waren,
vorbildlich geworden ist. Er hat der italienischen Lyrik, und wir können wohl
allgemeiner sagen, der italienischen Poesie die Richtung vorgeschrieben, gewisser¬
maßen die Gesetze ihrer Entwickelung gegeben. Erkennen wir doch auch in
den großen Epikern des 16. Jahrhunderts ohne Mühe und auf den ersten
Blick die nahe Verwandtschaft mit dem Liebessänger des XIV. Jahrhunderts,


Grmzbote" III. 1874, 12

sein Thun und Lassen in seine Brust zu legen, so mußte diese Richtung auf
Freiheit und Selbständigkeit auch in den Völkerindividualitäten zum Durch¬
bruch kommen: nicht als ob der Humanismus an sich ein staatenbildendes
Princip wäre, sondern deshalb, weil das Volk, dessen Bildung er als
Reformprincip der Gegenwart überlieferte, in der Pflege der Staats- und
Rechtsidee seinen höchsten weltgeschichtlichen Beruf erfüllt hatte.

Es ist aber dem Gelehrten und Dichter nicht gegeben, unmittelbar
Nationen zu einigen und Staaten zu gründen. Seine Wirkung ist nur
mittelbar; er arbeitet dem Staatsmann vor, indem er in die Massen die
Keime der Bildung senkt, dem Volksthum einen geistigen Gehalt bietet, das
Bewußtsein der idealen Einheit weckt und nährt, welche die feste Grundlage
der politischen Einheit ist. Die Gemeinsamkeit der Volkssprache allein ist kein
genügender Schutz des Volksthums; die Volkssprache geht in Mundarten
auseinander, die sich immer weiter von einander entfernen, wenn nicht eine
gebildete, in literarischen Schöpfungen stetig sich entwickelnde Schriftsprache sich
als einigendes Band um die Dialekte schlingt, ihrer Mißbildung zu selbst¬
ständigen Idiomen Schranken setzt und durch ihre Vermittlung einen gemein¬
samen Gedankengehalt, ein eigenthümliches Geistesleben in der Nation schafft.
Das ist in den Zeiten politischer Zerrüttung die nationale Aufgabe vor
Allem des Dichters und durch die glänzende Lösung dieser Aufgabe haben
sich die drei großen italienischen Dichter des 14. Jahrhunderts um ihr Vater¬
land' ein unsterbliches Verdienst erworben.

Und vielleicht nimmt unter den dreien , soweit es sich um die nationale
Bedeutung handelt, Petrarca als Schöpfer der italienischen Lyrik, der er das
eigenthümliche Gepräge seines Genius aufgedrückt hat, die erste Stelle ein.
Dante steht unnahbar auf einsamer steiler Höhe; sein unsterbliches Werk ist
so durchaus eigenthümlich, so einzig in seiner Art, es ist so dunkel, es nimmt
sür sein Verständniß ein so tiefes Studium in Anspruch, daß es weder der
Ausgangspunkt für eine neue dichterische Entwickelung werden, noch über die
Kreise der Höchstgebildeten hinaus, als Eigenthum in Fleisch und Blut des
Volkes übergehen konnte. Dante hat ein unvergängliches Kunstwerk, aber
keine neue Kunstform geschaffen, wie Petrarca, der es verstand, seinen
Empfindungen und Gefühlen einen Ausdruck zu geben, der für alle seine
Nachfolger auf dem Gebiete der Lyrik, auch wenn sie nicht Nachahmer waren,
vorbildlich geworden ist. Er hat der italienischen Lyrik, und wir können wohl
allgemeiner sagen, der italienischen Poesie die Richtung vorgeschrieben, gewisser¬
maßen die Gesetze ihrer Entwickelung gegeben. Erkennen wir doch auch in
den großen Epikern des 16. Jahrhunderts ohne Mühe und auf den ersten
Blick die nahe Verwandtschaft mit dem Liebessänger des XIV. Jahrhunderts,


Grmzbote» III. 1874, 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/97>, abgerufen am 25.08.2024.