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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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eines abgelebten, von einer wilden leidenschaftlichen Aufwallung des Volkes
zermalmten Gesellschaftszustandes lenkten, wenn sie ebenso fest wie die Schreckens¬
männer von 1793 überzeugt waren, daß die Revolution an der Welt des
18. Jahrhunderts nur ein gerechtes Gottesurtheil vollzogen hatte, wenn sie
zugleich wahrnahmen, wie die Apostel der Freiheit, nachdem sie im Namen
der Menschenrechte die Bande, welche die Gesellschaft bis dahin zusammenge¬
halten, zerrissen hatten, Nichts eiliger zu thun wußten, als noch härtere
Ketten zu schmieden, um die entfesselten Elemente zu zügeln und zu einer
neuen festgefügten Gesellschaft zusammenzubinden -- es war erklärlich und
natürlich, daß sie, gleich sehr abgestoßen von der Gegenwart wie von der
nächsten Vergangenheit, auf deren Ruinen die Gegenwart sich aufzubauen
trachtete, in den ausschweifendsten Lehren eines fernen Zeitalters die Heil¬
mittel suchten für die Leiden des neunzehnten Jahrhunderts. Aber wie auch
der Einzelne der Doctrin, die er verkündigte, gegenüberstehen mochte, die
Doctrin selbst war durch und durch krank und verwerflich, die Ausgeburt
einer verzweifelnden, mit der Welt zerfallenen Stimmung, die die Menschheit
zu retten glaubte, indem sie dieselbe der Grundlage aller sittlichen Verant¬
wortlichkeit berauben wollte, des freien Willens. Und das sollte eine ge¬
schichtliche Anschauung sein! Geschichtlich begründet waren diesen roman¬
tischen Fanatikern eben nur die äußersten Ansprüche der römischen Hierarchie.
Die Emancipation von der römischen Herrschaft war nur ein Abfall von der
Wahrheit, eine verhängnißvolle Unterbrechung der regelmäßigen Entwickelung
gewesen. Die Welt mußte um mehr als ein halbes Jahrtausend umkehren,
um einen neuen Ausgangspunkt der Bewegung, einen neuen Stützpunkt des
Daseins zu gewinnen.

Es war klar, daß vor den Ausschreitungen der radikalen und revolutio¬
nären Revolutionäre nur ein gründliches und besonnenes Studium der Ge¬
schichte die Gesellschaft schützen konnte. Das Feld der Geschichtsschreibung ist
in Frankreich zu allen Zeiten angebaut worden und wenigstens, was die
Darstellung betrifft, zum Theil mit glänzendem Erfolge. In der Klarheit
und Durchsichtigkeit der Erzählung und Schilderung, in der geschickten Grup-
pirung des Stoffes sind die Franzosen Meister. Aber das geschichtliche Ver¬
ständniß, der Sinn für Geschichte, war durch diese Werke in keiner Weise
ausgebildet worden, sodaß man mit Recht die Franzosen als die unhistorischste
Nation bezeichnen kann. Das Verständniß für ihre eigne Vergangenheit war
bei ihnen ebenso mangelhaft entwickelt, wie die Kenntniß fremder Zustände.
Und in der That waren auch ihre classischen Geschichtsschreiber durchaus nicht
geeignet, den Sinn für Geschichte zu erwecken, da sie selbst über einen dürf¬
tigen Pragmatismus nicht hinwegkamen, und vollkommen unfähig waren, an
eine fernliegende Periode den ihr eigenthümlichen ihr selbst entnommenen


eines abgelebten, von einer wilden leidenschaftlichen Aufwallung des Volkes
zermalmten Gesellschaftszustandes lenkten, wenn sie ebenso fest wie die Schreckens¬
männer von 1793 überzeugt waren, daß die Revolution an der Welt des
18. Jahrhunderts nur ein gerechtes Gottesurtheil vollzogen hatte, wenn sie
zugleich wahrnahmen, wie die Apostel der Freiheit, nachdem sie im Namen
der Menschenrechte die Bande, welche die Gesellschaft bis dahin zusammenge¬
halten, zerrissen hatten, Nichts eiliger zu thun wußten, als noch härtere
Ketten zu schmieden, um die entfesselten Elemente zu zügeln und zu einer
neuen festgefügten Gesellschaft zusammenzubinden — es war erklärlich und
natürlich, daß sie, gleich sehr abgestoßen von der Gegenwart wie von der
nächsten Vergangenheit, auf deren Ruinen die Gegenwart sich aufzubauen
trachtete, in den ausschweifendsten Lehren eines fernen Zeitalters die Heil¬
mittel suchten für die Leiden des neunzehnten Jahrhunderts. Aber wie auch
der Einzelne der Doctrin, die er verkündigte, gegenüberstehen mochte, die
Doctrin selbst war durch und durch krank und verwerflich, die Ausgeburt
einer verzweifelnden, mit der Welt zerfallenen Stimmung, die die Menschheit
zu retten glaubte, indem sie dieselbe der Grundlage aller sittlichen Verant¬
wortlichkeit berauben wollte, des freien Willens. Und das sollte eine ge¬
schichtliche Anschauung sein! Geschichtlich begründet waren diesen roman¬
tischen Fanatikern eben nur die äußersten Ansprüche der römischen Hierarchie.
Die Emancipation von der römischen Herrschaft war nur ein Abfall von der
Wahrheit, eine verhängnißvolle Unterbrechung der regelmäßigen Entwickelung
gewesen. Die Welt mußte um mehr als ein halbes Jahrtausend umkehren,
um einen neuen Ausgangspunkt der Bewegung, einen neuen Stützpunkt des
Daseins zu gewinnen.

Es war klar, daß vor den Ausschreitungen der radikalen und revolutio¬
nären Revolutionäre nur ein gründliches und besonnenes Studium der Ge¬
schichte die Gesellschaft schützen konnte. Das Feld der Geschichtsschreibung ist
in Frankreich zu allen Zeiten angebaut worden und wenigstens, was die
Darstellung betrifft, zum Theil mit glänzendem Erfolge. In der Klarheit
und Durchsichtigkeit der Erzählung und Schilderung, in der geschickten Grup-
pirung des Stoffes sind die Franzosen Meister. Aber das geschichtliche Ver¬
ständniß, der Sinn für Geschichte, war durch diese Werke in keiner Weise
ausgebildet worden, sodaß man mit Recht die Franzosen als die unhistorischste
Nation bezeichnen kann. Das Verständniß für ihre eigne Vergangenheit war
bei ihnen ebenso mangelhaft entwickelt, wie die Kenntniß fremder Zustände.
Und in der That waren auch ihre classischen Geschichtsschreiber durchaus nicht
geeignet, den Sinn für Geschichte zu erwecken, da sie selbst über einen dürf¬
tigen Pragmatismus nicht hinwegkamen, und vollkommen unfähig waren, an
eine fernliegende Periode den ihr eigenthümlichen ihr selbst entnommenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/492>, abgerufen am 22.07.2024.