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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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waren geschäftige Hände bereit, die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen und
wenigstens in der Literatur die classische Regel wider den Ansturm verwegener
Neuerer zu schützen. Aber den jugendlichen Kräften der begeisterten welt-
und himmelstürmenden Romantiker waren die Vertreter des alten Gesetzes,
das nur noch eine als hemmende Fessel von allen wirklichen oder eingebildeten
Genies empfunden wurde, nicht gewachsen.

Es lag in diesem Ansturm der Romantiker eine Gefahr, die, nach einigen
Jahren einer üppigen Blüthe, für die gesammte Literatur verhängnißvoll wer¬
den sollte. Man verwarf nicht nur die veralteten Gesetze, sondern man wollte
auf dem Gebiete der Kunst und Literatur überhaupt kein allgemeines Gesetz
gelten lassen, Jeder wollte die Regel für sein künstlerisches Schaffen aus
seiner eigenen Individualität schöpfen. Die hieraus sich ergebende Gefahr
war aber um so größer, als eine starke Strömung der Zeit einem ganz
abstrakten, von allen geschichtlichen und realen Voraussetzungen absehenden
Idealismus günstig war, der nicht nur die alten Formen verwarf, sondern
auch hinsichtlich des Gedankengehalts nach einer mit aller Sitte und allen
gewohnten Vorstellungen geflissentlich in Widerspruch sich setzenden Originalität
trachtete. Es ist hier nicht der Ort, auszuführen, wie grade aus dieser Sucht
nach dem Unerhörten, nie Dagewesenen die ungeheuerlichsten Schöpfungen
hervorgingen, wie die Phantasie der Schriftsteller und der Geschmack des
Publikums verdorben wurde, wie man, um überhaupt nur noch auf die über¬
reizten Nerven einen Eindruck hervorzubringen, sich mit einer förmlichen Lei¬
denschaft über gesunde Vernunft und Sittlichkeit hinweg setzte; bald die ab¬
genutzte Empfindung durch die schlüpfrigsten Bilder, bald die überspannte
Einbildungskraft durch die handgreiflichsten Darstellungen des schauderhaften,
Häßlichen, Abscheulichen reizte. Das Ergebniß liegt klar zu Tage: die Blü¬
then sind rasch verwelkt, die übermäßig gespannten Kräfte sind ermattet, im
Drama und Roman ist die psychologische Analyse auf die äußerste Spitze ge¬
trieben, aber ihr Objekt ist das Monströse, Unnatürliche. Die Kunst, indem
sie nur mit der Darstellung der Verirrungen des menschlichen Herzens sich
beschäftigt, hat die Schilderung der Leidenschaft zur raffinirtesten Virtuosität
ausgebildet, aber die Fähigkeit, lebendige plastische, in sich übereinstimmende
und deshalb mögliche und wahre Charaktere zu zeichnen, an deren Dasein
man glauben kann, hat sie darüber eingebüßt: wie es unvermeidlich ist, wo
die Darstellung in spannenden Situationen gipfelt. Die Wirkung des so
glänzend ins Leben tretenden literarischen Aufschwungs ist denn auch nicht
die Hebung, sondern die Erschlaffung und Verwilderung des öffentlichen Geistes
gewesen.

Aber noch von einer anderen Seite her drohte dem öffentlichen Geiste
eine furchtbare Gefahr, die geeignet schien, jede gesunde politische und gesell-


waren geschäftige Hände bereit, die zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen und
wenigstens in der Literatur die classische Regel wider den Ansturm verwegener
Neuerer zu schützen. Aber den jugendlichen Kräften der begeisterten welt-
und himmelstürmenden Romantiker waren die Vertreter des alten Gesetzes,
das nur noch eine als hemmende Fessel von allen wirklichen oder eingebildeten
Genies empfunden wurde, nicht gewachsen.

Es lag in diesem Ansturm der Romantiker eine Gefahr, die, nach einigen
Jahren einer üppigen Blüthe, für die gesammte Literatur verhängnißvoll wer¬
den sollte. Man verwarf nicht nur die veralteten Gesetze, sondern man wollte
auf dem Gebiete der Kunst und Literatur überhaupt kein allgemeines Gesetz
gelten lassen, Jeder wollte die Regel für sein künstlerisches Schaffen aus
seiner eigenen Individualität schöpfen. Die hieraus sich ergebende Gefahr
war aber um so größer, als eine starke Strömung der Zeit einem ganz
abstrakten, von allen geschichtlichen und realen Voraussetzungen absehenden
Idealismus günstig war, der nicht nur die alten Formen verwarf, sondern
auch hinsichtlich des Gedankengehalts nach einer mit aller Sitte und allen
gewohnten Vorstellungen geflissentlich in Widerspruch sich setzenden Originalität
trachtete. Es ist hier nicht der Ort, auszuführen, wie grade aus dieser Sucht
nach dem Unerhörten, nie Dagewesenen die ungeheuerlichsten Schöpfungen
hervorgingen, wie die Phantasie der Schriftsteller und der Geschmack des
Publikums verdorben wurde, wie man, um überhaupt nur noch auf die über¬
reizten Nerven einen Eindruck hervorzubringen, sich mit einer förmlichen Lei¬
denschaft über gesunde Vernunft und Sittlichkeit hinweg setzte; bald die ab¬
genutzte Empfindung durch die schlüpfrigsten Bilder, bald die überspannte
Einbildungskraft durch die handgreiflichsten Darstellungen des schauderhaften,
Häßlichen, Abscheulichen reizte. Das Ergebniß liegt klar zu Tage: die Blü¬
then sind rasch verwelkt, die übermäßig gespannten Kräfte sind ermattet, im
Drama und Roman ist die psychologische Analyse auf die äußerste Spitze ge¬
trieben, aber ihr Objekt ist das Monströse, Unnatürliche. Die Kunst, indem
sie nur mit der Darstellung der Verirrungen des menschlichen Herzens sich
beschäftigt, hat die Schilderung der Leidenschaft zur raffinirtesten Virtuosität
ausgebildet, aber die Fähigkeit, lebendige plastische, in sich übereinstimmende
und deshalb mögliche und wahre Charaktere zu zeichnen, an deren Dasein
man glauben kann, hat sie darüber eingebüßt: wie es unvermeidlich ist, wo
die Darstellung in spannenden Situationen gipfelt. Die Wirkung des so
glänzend ins Leben tretenden literarischen Aufschwungs ist denn auch nicht
die Hebung, sondern die Erschlaffung und Verwilderung des öffentlichen Geistes
gewesen.

Aber noch von einer anderen Seite her drohte dem öffentlichen Geiste
eine furchtbare Gefahr, die geeignet schien, jede gesunde politische und gesell-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/490>, abgerufen am 03.07.2024.