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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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gerichts über D. gelesen und befragte daher ihn zunächst nach dem Grund
dieser räthselhaften Erscheinung. Er gab mir Licht in der Dunkelheit. Der
Herr Bürgermeister von Dingskirchen schrieb mir nämlich: "Ich habe bisher
im Auftrage des Rittergutsbesitzers S. auf D. als Justitiar des Patrimonial-
gerichts über dies Rittergut die richterlichen Functionen geübt. Da aber der
Gutsbesitzer S. sich mit mir überwerfen hat. so habe ich zu seiner Zeit von
meinem Kündigungsrechte Gebrauch gemacht und bin ich mithin seit Johannis,
also seit vier Wochen, nicht mehr Justitiar. Soviel ich weiß, ist überall noch
kein neuer Justitiar vom Gutsbesitzer S. bestellt, da der Letztere ruhig in
Dresden wohnt und er sein Gut D. verpachtet hat."

Seit vier Wochen also existirte das Patrimonialgericht über das Ritter¬
gut D. überall nicht mehr! Eine liebliche Geschichte! Mein schönes Executions-
gesuch war gerade gegen den Pächter des Gutes D. an das Patrimonial¬
gericht über dieses Rittergut gerichtet und hatte große Eile, da dieser Pächter
in der allernächsten Zeit von dem Gute D. wegen Ablauf seiner Pachtzeit
abziehen wollte. Bei seinen bedrängten Vermögensverhältnissen erschien Eile
um so nöthiger, als ich in den Zeitungen bereits seine Anzeige las, worin
er die öffentliche Versteigerung seines sämmtlichen lebenden und todten In¬
ventars auf die nächste Zeit bekannt machte. Und hier nun, auf dem Schreib¬
tische, lag mein gewichtiger Executionsantrag, an dem alle Hoffnungen der
von mir vertretenen Partei hingen, und dieses Schreiben, was trug es als
verhängnisvolles Wahrzeichen auf dem Rücken? "Das Patrimonialgericht
ist nicht mehr."

Wenn mir dieses "ist nicht" auch heute spaßhaft klingt, wenn ich mich
in dieser Stunde noch daran ergötze, so war ich doch in jenem Augenblicke
nicht zum Scherzen aufgelegt, wo es sich darum handelte, die Früchte des
Processes einzuheimsen, die bei der unerwarteten Sachlage leicht verloren
gehen konnten. Ich erhob auf das Schleunigste eine Beschwerde bei der
kompetenten Justiz-Canzlei. Ich stellte das Ungeheuerliche mit kräftigen
Worten dar, wie hier im Lande Mecklenburg seit vier Wochen ein Gericht
verschwunden sei, und daß ich recht- und schutzlos umherirre, da der Gutsherr
als Inhaber der Gerichtsbarkeit über das Rittergut D. es für gut befunden
habe, außer Landes zu gehen, daß er, unbekümmert um seine Rechte und
Pflichten, weder einen Vertreter ernannt, noch einen Justitiar zur Ausübung
des Richteramtes bestellt habe. Darum erbat ich in meiner Beschwerdeschrift
energische Maßregeln und eine schleunige Verfügung gegen den rennenden
Gerichtsherrn.

Mit anzuerkennender Geschwindigkeit erließ die Großherzogliche Justiz¬
kanzlei ihre Verfügung. Es ward der Bürgermeister und Stadtrichter X. in
Dingskirchen -- eben derselbe Bürgermeister nämlich, welcher bis dahin der


Grenzboten III. 1874. 60

gerichts über D. gelesen und befragte daher ihn zunächst nach dem Grund
dieser räthselhaften Erscheinung. Er gab mir Licht in der Dunkelheit. Der
Herr Bürgermeister von Dingskirchen schrieb mir nämlich: „Ich habe bisher
im Auftrage des Rittergutsbesitzers S. auf D. als Justitiar des Patrimonial-
gerichts über dies Rittergut die richterlichen Functionen geübt. Da aber der
Gutsbesitzer S. sich mit mir überwerfen hat. so habe ich zu seiner Zeit von
meinem Kündigungsrechte Gebrauch gemacht und bin ich mithin seit Johannis,
also seit vier Wochen, nicht mehr Justitiar. Soviel ich weiß, ist überall noch
kein neuer Justitiar vom Gutsbesitzer S. bestellt, da der Letztere ruhig in
Dresden wohnt und er sein Gut D. verpachtet hat."

Seit vier Wochen also existirte das Patrimonialgericht über das Ritter¬
gut D. überall nicht mehr! Eine liebliche Geschichte! Mein schönes Executions-
gesuch war gerade gegen den Pächter des Gutes D. an das Patrimonial¬
gericht über dieses Rittergut gerichtet und hatte große Eile, da dieser Pächter
in der allernächsten Zeit von dem Gute D. wegen Ablauf seiner Pachtzeit
abziehen wollte. Bei seinen bedrängten Vermögensverhältnissen erschien Eile
um so nöthiger, als ich in den Zeitungen bereits seine Anzeige las, worin
er die öffentliche Versteigerung seines sämmtlichen lebenden und todten In¬
ventars auf die nächste Zeit bekannt machte. Und hier nun, auf dem Schreib¬
tische, lag mein gewichtiger Executionsantrag, an dem alle Hoffnungen der
von mir vertretenen Partei hingen, und dieses Schreiben, was trug es als
verhängnisvolles Wahrzeichen auf dem Rücken? „Das Patrimonialgericht
ist nicht mehr."

Wenn mir dieses „ist nicht" auch heute spaßhaft klingt, wenn ich mich
in dieser Stunde noch daran ergötze, so war ich doch in jenem Augenblicke
nicht zum Scherzen aufgelegt, wo es sich darum handelte, die Früchte des
Processes einzuheimsen, die bei der unerwarteten Sachlage leicht verloren
gehen konnten. Ich erhob auf das Schleunigste eine Beschwerde bei der
kompetenten Justiz-Canzlei. Ich stellte das Ungeheuerliche mit kräftigen
Worten dar, wie hier im Lande Mecklenburg seit vier Wochen ein Gericht
verschwunden sei, und daß ich recht- und schutzlos umherirre, da der Gutsherr
als Inhaber der Gerichtsbarkeit über das Rittergut D. es für gut befunden
habe, außer Landes zu gehen, daß er, unbekümmert um seine Rechte und
Pflichten, weder einen Vertreter ernannt, noch einen Justitiar zur Ausübung
des Richteramtes bestellt habe. Darum erbat ich in meiner Beschwerdeschrift
energische Maßregeln und eine schleunige Verfügung gegen den rennenden
Gerichtsherrn.

Mit anzuerkennender Geschwindigkeit erließ die Großherzogliche Justiz¬
kanzlei ihre Verfügung. Es ward der Bürgermeister und Stadtrichter X. in
Dingskirchen — eben derselbe Bürgermeister nämlich, welcher bis dahin der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/481>, abgerufen am 22.07.2024.