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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Michelet's einzuwenden haben mag, so muß man doch zugestehn, daß sie dem
Boden einer gründlichen historischen Forschung erwachsen sind. Wo er den
Erscheinungen als Forscher näher tritt, weiß er ihre Bedeutung zu würdigen
und auch aus seinen irrigen und einseitigen Ansichten tritt in oft hinreißender
Weise die durch tiefes Studium ausgebildete Gabe, sich in den Geist der
Vergangenheit zu versetzen, hervor. Die Unbefangenheit auch des geschicht¬
lichen Urtheils hört aber völlig auf, seit er in späteren Jahren sich daran
gewöhnt hat, die Erscheinungen der Vergangenheit von seinem abstracten
politisch-kirchlichen Standpunkte aus zu betrachten. Die Augustinische Lehre,
deren wohlthätigen Einfluß auf das frühere Mittelalter der rastlos combinirende
Historiker vielleicht zu hoch angeschlagen hat, erscheint dem Philosophen und
Politiker als Quelle des Verderbens. Und da ihm diese Lehre als vollkommenste
Consequenz des Christenthums gilt, so betrachtet er dieses mit derselben Abneigung
wie jene Lehre. Und in der Hitze des Kampfes, den er mit lobenswerther
Energie gegen den entnervenden, ganze Generationen im Wetteifer mit dem
Radicalismus vergiftenden Jesuitismus führt, wird ihm das Christenthum un¬
vermerkt fast zum bösen Princip. Wie beredt hat er in früheren Jahren die
civilisatorische Mission des strengsten Kirchenthums geschildert. Das ist ver¬
gessen; das Mittelalter mit den gewaltigen Kräften, die dasselbe bewegten,
erscheint ihm später gleichsam als ein großer Irrthum der Geschichte, als eine
fluchwürdige Unterdrückung des Menschenthums, als ein grauenhafter den
Menschen entnervender Despotismus, von dessen Joch eine erhabene Auf¬
wallung des französischen Volksgeistes die Welt erlöst hat. Mit einer wahren
Leidenschaft entwirft er jetzt Schauergemälde von den sittlichen Zuständen der
Vergangenheit, die nur noch auf den Namen von Zerrbildern Anspruch
machen können. Nicht als ob er die Geschichte absichtlich gefälscht; er schildert
treu nach den Quellen: aber während er in seinen früheren großen Arbeiten
all e Züge zu einem Gesammtbilde zusammensetzt, greift er in seinen späteren
Streitschriften unter dem Einfluß der leidenschaftlichen Parteinahme für die
kirchlichen und politischen Tagesfragen diejenigen Erscheinungen heraus, die
wie krankhafte Auswüchse dem lebenskräftige^ Stamm entkeimen, in denen
aber kein besonnenes Urtheil den Kern und das Wesen des Christenthums
erblicken wird.

Welche Gestalt unter den Eindrücken der Gegenwart in seinem Geiste
allmählich auch das christliche Alterthum gewinnt, davon legt seine viel gelesene
Schrift "I^g, Lorciörs" ein beredtes Zeugniß ab, auf die ich schon deshalb
hier etwas näher eingehe, weil sie für die bald hinreißende, bald widerliche
und oft geradezu abstoßende Darstellung in seinen späteren Werken im hohen
Grade charakteristisch ist. Das Buch ist ein Mittelding zwischen einem
Geschichtswerk und einer Flugschrift. Jede Seite zeugt von dem umfassendsten


Michelet's einzuwenden haben mag, so muß man doch zugestehn, daß sie dem
Boden einer gründlichen historischen Forschung erwachsen sind. Wo er den
Erscheinungen als Forscher näher tritt, weiß er ihre Bedeutung zu würdigen
und auch aus seinen irrigen und einseitigen Ansichten tritt in oft hinreißender
Weise die durch tiefes Studium ausgebildete Gabe, sich in den Geist der
Vergangenheit zu versetzen, hervor. Die Unbefangenheit auch des geschicht¬
lichen Urtheils hört aber völlig auf, seit er in späteren Jahren sich daran
gewöhnt hat, die Erscheinungen der Vergangenheit von seinem abstracten
politisch-kirchlichen Standpunkte aus zu betrachten. Die Augustinische Lehre,
deren wohlthätigen Einfluß auf das frühere Mittelalter der rastlos combinirende
Historiker vielleicht zu hoch angeschlagen hat, erscheint dem Philosophen und
Politiker als Quelle des Verderbens. Und da ihm diese Lehre als vollkommenste
Consequenz des Christenthums gilt, so betrachtet er dieses mit derselben Abneigung
wie jene Lehre. Und in der Hitze des Kampfes, den er mit lobenswerther
Energie gegen den entnervenden, ganze Generationen im Wetteifer mit dem
Radicalismus vergiftenden Jesuitismus führt, wird ihm das Christenthum un¬
vermerkt fast zum bösen Princip. Wie beredt hat er in früheren Jahren die
civilisatorische Mission des strengsten Kirchenthums geschildert. Das ist ver¬
gessen; das Mittelalter mit den gewaltigen Kräften, die dasselbe bewegten,
erscheint ihm später gleichsam als ein großer Irrthum der Geschichte, als eine
fluchwürdige Unterdrückung des Menschenthums, als ein grauenhafter den
Menschen entnervender Despotismus, von dessen Joch eine erhabene Auf¬
wallung des französischen Volksgeistes die Welt erlöst hat. Mit einer wahren
Leidenschaft entwirft er jetzt Schauergemälde von den sittlichen Zuständen der
Vergangenheit, die nur noch auf den Namen von Zerrbildern Anspruch
machen können. Nicht als ob er die Geschichte absichtlich gefälscht; er schildert
treu nach den Quellen: aber während er in seinen früheren großen Arbeiten
all e Züge zu einem Gesammtbilde zusammensetzt, greift er in seinen späteren
Streitschriften unter dem Einfluß der leidenschaftlichen Parteinahme für die
kirchlichen und politischen Tagesfragen diejenigen Erscheinungen heraus, die
wie krankhafte Auswüchse dem lebenskräftige^ Stamm entkeimen, in denen
aber kein besonnenes Urtheil den Kern und das Wesen des Christenthums
erblicken wird.

Welche Gestalt unter den Eindrücken der Gegenwart in seinem Geiste
allmählich auch das christliche Alterthum gewinnt, davon legt seine viel gelesene
Schrift „I^g, Lorciörs" ein beredtes Zeugniß ab, auf die ich schon deshalb
hier etwas näher eingehe, weil sie für die bald hinreißende, bald widerliche
und oft geradezu abstoßende Darstellung in seinen späteren Werken im hohen
Grade charakteristisch ist. Das Buch ist ein Mittelding zwischen einem
Geschichtswerk und einer Flugschrift. Jede Seite zeugt von dem umfassendsten


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[0456] Michelet's einzuwenden haben mag, so muß man doch zugestehn, daß sie dem Boden einer gründlichen historischen Forschung erwachsen sind. Wo er den Erscheinungen als Forscher näher tritt, weiß er ihre Bedeutung zu würdigen und auch aus seinen irrigen und einseitigen Ansichten tritt in oft hinreißender Weise die durch tiefes Studium ausgebildete Gabe, sich in den Geist der Vergangenheit zu versetzen, hervor. Die Unbefangenheit auch des geschicht¬ lichen Urtheils hört aber völlig auf, seit er in späteren Jahren sich daran gewöhnt hat, die Erscheinungen der Vergangenheit von seinem abstracten politisch-kirchlichen Standpunkte aus zu betrachten. Die Augustinische Lehre, deren wohlthätigen Einfluß auf das frühere Mittelalter der rastlos combinirende Historiker vielleicht zu hoch angeschlagen hat, erscheint dem Philosophen und Politiker als Quelle des Verderbens. Und da ihm diese Lehre als vollkommenste Consequenz des Christenthums gilt, so betrachtet er dieses mit derselben Abneigung wie jene Lehre. Und in der Hitze des Kampfes, den er mit lobenswerther Energie gegen den entnervenden, ganze Generationen im Wetteifer mit dem Radicalismus vergiftenden Jesuitismus führt, wird ihm das Christenthum un¬ vermerkt fast zum bösen Princip. Wie beredt hat er in früheren Jahren die civilisatorische Mission des strengsten Kirchenthums geschildert. Das ist ver¬ gessen; das Mittelalter mit den gewaltigen Kräften, die dasselbe bewegten, erscheint ihm später gleichsam als ein großer Irrthum der Geschichte, als eine fluchwürdige Unterdrückung des Menschenthums, als ein grauenhafter den Menschen entnervender Despotismus, von dessen Joch eine erhabene Auf¬ wallung des französischen Volksgeistes die Welt erlöst hat. Mit einer wahren Leidenschaft entwirft er jetzt Schauergemälde von den sittlichen Zuständen der Vergangenheit, die nur noch auf den Namen von Zerrbildern Anspruch machen können. Nicht als ob er die Geschichte absichtlich gefälscht; er schildert treu nach den Quellen: aber während er in seinen früheren großen Arbeiten all e Züge zu einem Gesammtbilde zusammensetzt, greift er in seinen späteren Streitschriften unter dem Einfluß der leidenschaftlichen Parteinahme für die kirchlichen und politischen Tagesfragen diejenigen Erscheinungen heraus, die wie krankhafte Auswüchse dem lebenskräftige^ Stamm entkeimen, in denen aber kein besonnenes Urtheil den Kern und das Wesen des Christenthums erblicken wird. Welche Gestalt unter den Eindrücken der Gegenwart in seinem Geiste allmählich auch das christliche Alterthum gewinnt, davon legt seine viel gelesene Schrift „I^g, Lorciörs" ein beredtes Zeugniß ab, auf die ich schon deshalb hier etwas näher eingehe, weil sie für die bald hinreißende, bald widerliche und oft geradezu abstoßende Darstellung in seinen späteren Werken im hohen Grade charakteristisch ist. Das Buch ist ein Mittelding zwischen einem Geschichtswerk und einer Flugschrift. Jede Seite zeugt von dem umfassendsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/456>, abgerufen am 22.07.2024.