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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Kapitel aufs schärfste verurtheilt, um sie am Schlüsse als "begeisterten
Idealismus" zu preisen. Auch entschieden falsche Thatsachen finden sich in
Fülle vorgetragen. So wird Lasalle der Erfinder des vierten Standes ge¬
nannt, die Entstehung der nationalen Partei und ihre Trennung von der
Fortschrittspartei um ein volles Halbjahr zu spät datirt, nämlich erst von
"dem beharrlichen Widerstand der Linken gegen die Einführung der Nord¬
deutschen Bundesverfassung", während in Wahrheit bekanntlich die bereits
auf dem Frankfurter Abgeordnetentag hervortretende Divergenz der beiden
Parteien schon im August 1866 seit dem volkswirthschaftlichen Congreß in
Braunschweig durch die dortigen Beschlüsse förmlich vollzogen wurde und
namentlich der Name und Zweck der neuen Partei schon damals überall
hervortritt und Anhänger wirbt. Ueber das politische Leben der deutschen
Mittel- und Kleinstaaten urtheilt der Verfasser vollends mit einer ebenso
tiefen Unkenntniß als hohen Anmaßung.

Aber der Hauptfehler der vorliegenden Schrift besteht unbedingt darin,
daß ihr Zweck, den ihr Titel bekundet, einmal verdunkelt wird durch die fast
zufällige Einschaltung von Vorträgen -- denn anders können diese docirenden
Abhandlungen nicht gut genannt werden -- die dem Hauptzwecke, milde aus¬
gedrückt, nur sehr mittelbar dienen, und daß andererseits die wirklichen posi¬
tiven Vorschläge des Verfassers zum "Ausbau des Reiches" in der Haupt¬
sache ebenso unmotivirt als unausführbar, im Uebrigen aber, soweit sie aus¬
führbar erscheinen, nicht im mindesten neu sind. In höchst eigenthümlicher
Weise scheinen die einzelnen Theile dieser Schrift aneinander gefügt worden
zu sein. Zuerst, im Februar d. I., ist wohl das Vorwort (!) geschrieben --
das Vorwort zu einem damals noch großentheils ungeschriebenen Werke.
Bei Abfassung des zweiten Kapitels war der drohende Konflikt dieses Früh¬
jahrs über das Militairgesetz durch den bekannten Kompromißvorschlag der
nationalen beseitigt (S. 54). An einer späteren Stelle befinden wir uns
wieder in den Vorstadien dieses Gesetzes. Was das Kapitel über "die deutsche
Bildungsreform" soll, wird uns ewig unklar bleiben. Das Schlußkapitel
"das deutsche Reich und sein Ausbau" enthält über Reich und Ausbau gar
nichts, sondern nur eine Parteicharakteristik und den schüchternen Versuch, der
Negierung des Kanzlers eine regierungsfähige Volksseele zu substituiren,
deren Regierungsantritt zum Glück dermalen noch in unabsehbarer Ferne liegt.

Die eigentlichen Vorschläge des Verfassers über "des Reiches Ausbau"
enthält das dritte Kapitel, "die Verfassungen Deutschlands", und sie bestehen
wörtlich in Folgendem (S. 101). 1) Vereinigung kleinerer Staaten zu einem
Gesammtverfassungsstaate, 2) Gemeinsamkeit einer Verfassungsnorm für alle
deutschen Bundesstaaten, 3) Zusammensetzung des deutschen Reichstags aus
Mitgliedern der Einzelparlamente. Dazu tritt dann die vom Verfasser im


Kapitel aufs schärfste verurtheilt, um sie am Schlüsse als „begeisterten
Idealismus" zu preisen. Auch entschieden falsche Thatsachen finden sich in
Fülle vorgetragen. So wird Lasalle der Erfinder des vierten Standes ge¬
nannt, die Entstehung der nationalen Partei und ihre Trennung von der
Fortschrittspartei um ein volles Halbjahr zu spät datirt, nämlich erst von
»dem beharrlichen Widerstand der Linken gegen die Einführung der Nord¬
deutschen Bundesverfassung", während in Wahrheit bekanntlich die bereits
auf dem Frankfurter Abgeordnetentag hervortretende Divergenz der beiden
Parteien schon im August 1866 seit dem volkswirthschaftlichen Congreß in
Braunschweig durch die dortigen Beschlüsse förmlich vollzogen wurde und
namentlich der Name und Zweck der neuen Partei schon damals überall
hervortritt und Anhänger wirbt. Ueber das politische Leben der deutschen
Mittel- und Kleinstaaten urtheilt der Verfasser vollends mit einer ebenso
tiefen Unkenntniß als hohen Anmaßung.

Aber der Hauptfehler der vorliegenden Schrift besteht unbedingt darin,
daß ihr Zweck, den ihr Titel bekundet, einmal verdunkelt wird durch die fast
zufällige Einschaltung von Vorträgen — denn anders können diese docirenden
Abhandlungen nicht gut genannt werden — die dem Hauptzwecke, milde aus¬
gedrückt, nur sehr mittelbar dienen, und daß andererseits die wirklichen posi¬
tiven Vorschläge des Verfassers zum „Ausbau des Reiches" in der Haupt¬
sache ebenso unmotivirt als unausführbar, im Uebrigen aber, soweit sie aus¬
führbar erscheinen, nicht im mindesten neu sind. In höchst eigenthümlicher
Weise scheinen die einzelnen Theile dieser Schrift aneinander gefügt worden
zu sein. Zuerst, im Februar d. I., ist wohl das Vorwort (!) geschrieben —
das Vorwort zu einem damals noch großentheils ungeschriebenen Werke.
Bei Abfassung des zweiten Kapitels war der drohende Konflikt dieses Früh¬
jahrs über das Militairgesetz durch den bekannten Kompromißvorschlag der
nationalen beseitigt (S. 54). An einer späteren Stelle befinden wir uns
wieder in den Vorstadien dieses Gesetzes. Was das Kapitel über „die deutsche
Bildungsreform" soll, wird uns ewig unklar bleiben. Das Schlußkapitel
»das deutsche Reich und sein Ausbau" enthält über Reich und Ausbau gar
nichts, sondern nur eine Parteicharakteristik und den schüchternen Versuch, der
Negierung des Kanzlers eine regierungsfähige Volksseele zu substituiren,
deren Regierungsantritt zum Glück dermalen noch in unabsehbarer Ferne liegt.

Die eigentlichen Vorschläge des Verfassers über „des Reiches Ausbau"
enthält das dritte Kapitel, „die Verfassungen Deutschlands", und sie bestehen
wörtlich in Folgendem (S. 101). 1) Vereinigung kleinerer Staaten zu einem
Gesammtverfassungsstaate, 2) Gemeinsamkeit einer Verfassungsnorm für alle
deutschen Bundesstaaten, 3) Zusammensetzung des deutschen Reichstags aus
Mitgliedern der Einzelparlamente. Dazu tritt dann die vom Verfasser im


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[0325] Kapitel aufs schärfste verurtheilt, um sie am Schlüsse als „begeisterten Idealismus" zu preisen. Auch entschieden falsche Thatsachen finden sich in Fülle vorgetragen. So wird Lasalle der Erfinder des vierten Standes ge¬ nannt, die Entstehung der nationalen Partei und ihre Trennung von der Fortschrittspartei um ein volles Halbjahr zu spät datirt, nämlich erst von »dem beharrlichen Widerstand der Linken gegen die Einführung der Nord¬ deutschen Bundesverfassung", während in Wahrheit bekanntlich die bereits auf dem Frankfurter Abgeordnetentag hervortretende Divergenz der beiden Parteien schon im August 1866 seit dem volkswirthschaftlichen Congreß in Braunschweig durch die dortigen Beschlüsse förmlich vollzogen wurde und namentlich der Name und Zweck der neuen Partei schon damals überall hervortritt und Anhänger wirbt. Ueber das politische Leben der deutschen Mittel- und Kleinstaaten urtheilt der Verfasser vollends mit einer ebenso tiefen Unkenntniß als hohen Anmaßung. Aber der Hauptfehler der vorliegenden Schrift besteht unbedingt darin, daß ihr Zweck, den ihr Titel bekundet, einmal verdunkelt wird durch die fast zufällige Einschaltung von Vorträgen — denn anders können diese docirenden Abhandlungen nicht gut genannt werden — die dem Hauptzwecke, milde aus¬ gedrückt, nur sehr mittelbar dienen, und daß andererseits die wirklichen posi¬ tiven Vorschläge des Verfassers zum „Ausbau des Reiches" in der Haupt¬ sache ebenso unmotivirt als unausführbar, im Uebrigen aber, soweit sie aus¬ führbar erscheinen, nicht im mindesten neu sind. In höchst eigenthümlicher Weise scheinen die einzelnen Theile dieser Schrift aneinander gefügt worden zu sein. Zuerst, im Februar d. I., ist wohl das Vorwort (!) geschrieben — das Vorwort zu einem damals noch großentheils ungeschriebenen Werke. Bei Abfassung des zweiten Kapitels war der drohende Konflikt dieses Früh¬ jahrs über das Militairgesetz durch den bekannten Kompromißvorschlag der nationalen beseitigt (S. 54). An einer späteren Stelle befinden wir uns wieder in den Vorstadien dieses Gesetzes. Was das Kapitel über „die deutsche Bildungsreform" soll, wird uns ewig unklar bleiben. Das Schlußkapitel »das deutsche Reich und sein Ausbau" enthält über Reich und Ausbau gar nichts, sondern nur eine Parteicharakteristik und den schüchternen Versuch, der Negierung des Kanzlers eine regierungsfähige Volksseele zu substituiren, deren Regierungsantritt zum Glück dermalen noch in unabsehbarer Ferne liegt. Die eigentlichen Vorschläge des Verfassers über „des Reiches Ausbau" enthält das dritte Kapitel, „die Verfassungen Deutschlands", und sie bestehen wörtlich in Folgendem (S. 101). 1) Vereinigung kleinerer Staaten zu einem Gesammtverfassungsstaate, 2) Gemeinsamkeit einer Verfassungsnorm für alle deutschen Bundesstaaten, 3) Zusammensetzung des deutschen Reichstags aus Mitgliedern der Einzelparlamente. Dazu tritt dann die vom Verfasser im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/325>, abgerufen am 03.07.2024.