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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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überall im Gegensatz zum herrschenden Ultramontanismus entsteht, und dann
schien ihr das Großdeutschthum mit seinen föderativem Gedanken jedenfalls
eine bessere Grundlage der zukünftigen deutschen Föderativrepublik zu sein,
als der kleindeutsche Bundesstaat mit dem monarchischen preußischen Staat
und Volk an der Spitze. Auch ihr war deshalb der Spruch: "Lieber öster¬
reichisch sterben, als preußisch verderben" d. h. lieber für die Freiheit und
Einheit Deutschlands nichts erlangen, als in Folge "der preußischen Spitze"
auf die Parteiideale verzichten müssen. aus der Seele geredet.

Kurz, wenn man sich die Zustände in Deutschland vor 1866 ungeschminkt
vergegenwärtigt, so wird man sagen müssen, daß für eine friedliche organische
Entwicklung des Kleindeutschthums die Aktien noch äußerst niedrig standen
und daß ohne das revolutionäre Eingreifen der Jahre 1866--70 das Wann
der Lösung der deutschen Frage durchaus unbestimmbar gewesen wäre.

Daraus folgt nun, wie es scheint, daß heute im Elsaß die Lage ähnlich
ist. wie damals in Süddeutschland, daß im "Reichslande" Preußen-Deutsch¬
land den Katholicismus, die Demokratie, und die ganze Volksstimmung gegen
steh hat, die nämlichen Feinde also, die Preußen allein früher in Süddeutsch¬
land hatte, nur daß sie sich hier blau-weiß-roth anstatt schwarzgelb drapiren.

Aber wir halten diesen Schluß nicht für richtig. Er ist beides, zu op¬
timistisch und zu pessimistisch, je nachdem man ihn ansieht. Zu optimistisch:
denn wo ist denn in Elsaß-Lothringen eine deutsch-nationale Partei, die doch
in Süddeutschland vorhanden war? Die al^eetn, mömbra entschiedener
elsässtscher Deutschfreunde, einige Dichter, Schriftsteller, protestantische Pfarrer,
oder die junge, aber auch noch höchst unklare "elsässische" Partei sind doch
erst sehr schwache Ansätze einer Entwicklung in deutschnationaler Richtung.
Höhnend könnte uns ein Franzose oder Herr Sonnemann zurufen: "Wenn
Ihr im Elsaß, ganz abgesehen davon, daß französische Sympathieen denn
doch einen Grad schlimmer sind, als österreichische, wenn Ihr im Elsaß schon
so weit wärt, wie Süddeutschland für Euch vor 1866 war, so könntet ihr
allerdings Victoria blasen. So aber müßt Ihr noch lange warten, ehe ihr
nur "Nationvereinler" bekommt. Ja, ihr werdet sie nie bekommen!"

Darauf entgegnen wir nun wieder: "Gemach! Ihr hättet vollständig
Recht, wenn Elsaß-Lothringen noch französisch wäre, gerade wie Eure Macht,
ihr Demokraten ze,, noch gänzlich ungebrochen sein würde, wenn 1866 nicht
gekommen wäre. 1870 war aber für Elsaß-Lothringen etwas Aehnliches wie
1866 für Euch, und der auf religiösem Gebiet verwerfliche Satz: "cujus i'vgio,
Hus religiö" hat eben eum Zrano salis auf politische Umwälzungen an¬
gewandt, eine unbestreitbare Wahrheit. Darum ist der obige Schluß, auch
Pessimistisch betrachtet, unrichtig. Er bedarf eines Zusatzes, um die wirkliche
Sachlage abzuspiegeln. Was er sagt, daß nämlich Preußen-Deutschland in


überall im Gegensatz zum herrschenden Ultramontanismus entsteht, und dann
schien ihr das Großdeutschthum mit seinen föderativem Gedanken jedenfalls
eine bessere Grundlage der zukünftigen deutschen Föderativrepublik zu sein,
als der kleindeutsche Bundesstaat mit dem monarchischen preußischen Staat
und Volk an der Spitze. Auch ihr war deshalb der Spruch: „Lieber öster¬
reichisch sterben, als preußisch verderben" d. h. lieber für die Freiheit und
Einheit Deutschlands nichts erlangen, als in Folge „der preußischen Spitze"
auf die Parteiideale verzichten müssen. aus der Seele geredet.

Kurz, wenn man sich die Zustände in Deutschland vor 1866 ungeschminkt
vergegenwärtigt, so wird man sagen müssen, daß für eine friedliche organische
Entwicklung des Kleindeutschthums die Aktien noch äußerst niedrig standen
und daß ohne das revolutionäre Eingreifen der Jahre 1866—70 das Wann
der Lösung der deutschen Frage durchaus unbestimmbar gewesen wäre.

Daraus folgt nun, wie es scheint, daß heute im Elsaß die Lage ähnlich
ist. wie damals in Süddeutschland, daß im „Reichslande" Preußen-Deutsch¬
land den Katholicismus, die Demokratie, und die ganze Volksstimmung gegen
steh hat, die nämlichen Feinde also, die Preußen allein früher in Süddeutsch¬
land hatte, nur daß sie sich hier blau-weiß-roth anstatt schwarzgelb drapiren.

Aber wir halten diesen Schluß nicht für richtig. Er ist beides, zu op¬
timistisch und zu pessimistisch, je nachdem man ihn ansieht. Zu optimistisch:
denn wo ist denn in Elsaß-Lothringen eine deutsch-nationale Partei, die doch
in Süddeutschland vorhanden war? Die al^eetn, mömbra entschiedener
elsässtscher Deutschfreunde, einige Dichter, Schriftsteller, protestantische Pfarrer,
oder die junge, aber auch noch höchst unklare „elsässische" Partei sind doch
erst sehr schwache Ansätze einer Entwicklung in deutschnationaler Richtung.
Höhnend könnte uns ein Franzose oder Herr Sonnemann zurufen: „Wenn
Ihr im Elsaß, ganz abgesehen davon, daß französische Sympathieen denn
doch einen Grad schlimmer sind, als österreichische, wenn Ihr im Elsaß schon
so weit wärt, wie Süddeutschland für Euch vor 1866 war, so könntet ihr
allerdings Victoria blasen. So aber müßt Ihr noch lange warten, ehe ihr
nur „Nationvereinler" bekommt. Ja, ihr werdet sie nie bekommen!"

Darauf entgegnen wir nun wieder: „Gemach! Ihr hättet vollständig
Recht, wenn Elsaß-Lothringen noch französisch wäre, gerade wie Eure Macht,
ihr Demokraten ze,, noch gänzlich ungebrochen sein würde, wenn 1866 nicht
gekommen wäre. 1870 war aber für Elsaß-Lothringen etwas Aehnliches wie
1866 für Euch, und der auf religiösem Gebiet verwerfliche Satz: „cujus i'vgio,
Hus religiö" hat eben eum Zrano salis auf politische Umwälzungen an¬
gewandt, eine unbestreitbare Wahrheit. Darum ist der obige Schluß, auch
Pessimistisch betrachtet, unrichtig. Er bedarf eines Zusatzes, um die wirkliche
Sachlage abzuspiegeln. Was er sagt, daß nämlich Preußen-Deutschland in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/119>, abgerufen am 22.07.2024.