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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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betrügt, hat wenig Grund sich genau darum zu bekümmern, welche Strafen
dem Verbrecher drohen, aber er hat das größte Interesse das bürgerliche Ge¬
setz des Staates zu kennen, in welchem er lebt, und derjenigen benachbarten
Staaten, mit denen er in nahem Verkehr steht. Dies muß um so mehr der
Fall sein, wenn die Staatengruppe, der sein Land angehört, eine Anzahl
kleiner Territorien umfaßt mit schlecht regulirten Grenzen und einer Reich¬
haltigkeit verschiedener Gesetzgebungen, die selbst den Statuten liebenden
Justinian hätte erschrecken können. Zu diesem mächtigen Beweggrunde kam
noch die ängstliche Fürsorge aller Patrioten, das Reich fest zusammen zu
schweißen und es so bereit zu machen für die bevorstehenden und wahrschein¬
lich ernsten Phasen des kirchlichen Conflictes. Wie Frankreich durch den un¬
vorsichtigen Angriff den Grund zur deutschen Einheit legte, so hat der Va-
tican, der nach der Niederlage von Frankreich den Kampf fortsetzte, alles, was
er konnte, gethan, um die Einrichtungen von 1870 zu befestigen und zu ent¬
wickeln. Da solche mächtige Triebfedern das Volk vorwärts drängten, mußte
selbst die am wenigsten nachgiebige Regierung sehen, daß es unweise und un-
conservativ gewesen wäre, einen so starken, so natürlichen und so gerechtfertigten
Wunsch abzuschlagen.

Wenn ein reiches und cultivirtes Volk zwei große Kriege für seine
Existenz geführt hat und neue Schwierigkeiten in Aussicht stehen, so ist die
öffentliche Meinung eine bedeutende Macht und darf nicht zu lange mit ihren
billigen Forderungen hingehalten werden, namentlich wenn sie die stärkste
der Regierungen und die liberalen unter den Fürsten auf ihrer Seite hat.
Diese Erwägungen griffen um sich und die oben erwähnte Abstimmung war
das Resultat.

Wenn die Thatsache, daß die kleineren Fürsten einer solchen Verkürzung
der Rechte der Einzelstaaten zustimmten, schon in sich ein genügender Beweis
von dem wachsenden Einfluß der Centralbehörden ist, so ist das Verhalten
einiger dieser Fürsten in den letzten Stadien der Sache eine eigenthümliche
Illustration für dieselbe gewichtige Wahrheit. Sie werden sich erinnern,
daß seit der Entstehung des Reichs die Frage nicht ohne eine gewisse Erregung
von den Ministern und Parlamenten dieses Landes erwogen wurde, welches
Verfahren zur Ausdehnung der Reichscompetenz, falls eine solche geschehen
solle, beobachtet werden müsse. Kann die Kompetenz der Centralregierung
erweitert werden durch bloßen Beschluß des Reichstags mit Zustimmung des
Bundesraths? Oder ist in jedem derartigen Falle die Zu¬
stimmung der Einzellandtage und der Fürsten unerläßlich?
Das Problem war ein ernstes und die Ausbildung der bestehenden Einrich¬
tungen von der Antwort abhängig.


betrügt, hat wenig Grund sich genau darum zu bekümmern, welche Strafen
dem Verbrecher drohen, aber er hat das größte Interesse das bürgerliche Ge¬
setz des Staates zu kennen, in welchem er lebt, und derjenigen benachbarten
Staaten, mit denen er in nahem Verkehr steht. Dies muß um so mehr der
Fall sein, wenn die Staatengruppe, der sein Land angehört, eine Anzahl
kleiner Territorien umfaßt mit schlecht regulirten Grenzen und einer Reich¬
haltigkeit verschiedener Gesetzgebungen, die selbst den Statuten liebenden
Justinian hätte erschrecken können. Zu diesem mächtigen Beweggrunde kam
noch die ängstliche Fürsorge aller Patrioten, das Reich fest zusammen zu
schweißen und es so bereit zu machen für die bevorstehenden und wahrschein¬
lich ernsten Phasen des kirchlichen Conflictes. Wie Frankreich durch den un¬
vorsichtigen Angriff den Grund zur deutschen Einheit legte, so hat der Va-
tican, der nach der Niederlage von Frankreich den Kampf fortsetzte, alles, was
er konnte, gethan, um die Einrichtungen von 1870 zu befestigen und zu ent¬
wickeln. Da solche mächtige Triebfedern das Volk vorwärts drängten, mußte
selbst die am wenigsten nachgiebige Regierung sehen, daß es unweise und un-
conservativ gewesen wäre, einen so starken, so natürlichen und so gerechtfertigten
Wunsch abzuschlagen.

Wenn ein reiches und cultivirtes Volk zwei große Kriege für seine
Existenz geführt hat und neue Schwierigkeiten in Aussicht stehen, so ist die
öffentliche Meinung eine bedeutende Macht und darf nicht zu lange mit ihren
billigen Forderungen hingehalten werden, namentlich wenn sie die stärkste
der Regierungen und die liberalen unter den Fürsten auf ihrer Seite hat.
Diese Erwägungen griffen um sich und die oben erwähnte Abstimmung war
das Resultat.

Wenn die Thatsache, daß die kleineren Fürsten einer solchen Verkürzung
der Rechte der Einzelstaaten zustimmten, schon in sich ein genügender Beweis
von dem wachsenden Einfluß der Centralbehörden ist, so ist das Verhalten
einiger dieser Fürsten in den letzten Stadien der Sache eine eigenthümliche
Illustration für dieselbe gewichtige Wahrheit. Sie werden sich erinnern,
daß seit der Entstehung des Reichs die Frage nicht ohne eine gewisse Erregung
von den Ministern und Parlamenten dieses Landes erwogen wurde, welches
Verfahren zur Ausdehnung der Reichscompetenz, falls eine solche geschehen
solle, beobachtet werden müsse. Kann die Kompetenz der Centralregierung
erweitert werden durch bloßen Beschluß des Reichstags mit Zustimmung des
Bundesraths? Oder ist in jedem derartigen Falle die Zu¬
stimmung der Einzellandtage und der Fürsten unerläßlich?
Das Problem war ein ernstes und die Ausbildung der bestehenden Einrich¬
tungen von der Antwort abhängig.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/81>, abgerufen am 21.11.2024.