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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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verlegt hat. Selbstverständlich fiel es keinem Pariser ein, die Fahrt nach
Versailles dranzuwenden, um dort Zeuge des wiederhergestellten "Prestige"
seines Vaterlandes zu sein. Und doch war für dies Prestige Heuer ungleich
reichlicher Sorge getragen, als unter dem bürgerlichen Regime des Hrn. Thiers.
Mac Mahon hatte sich bei dem Empfange mit dem ganzen militärischen Pomp
des Kaiserreichs umgeben, und der Präsident der Nationalversammlung,
Hr. Büffet, gestattete sich bei der Auffahrt einen Luxus der Eskorte, wie man
ihn nur an der Kaiserin Eugenie gekannt hatte. Im Uebrigen entsprach
der Verlauf der Ceremonie, unter dem Gesichtspunkte der europäischen Politik
betrachtet, dem geringen Einfluß, welchen Frankreich auf den Gang der letzteren
heutzutage ausübt.

Mac Mahon und seine Minister sind klug genug, um zu begreifen, daß
ein Versuch, dies thatsächliche Verhältniß durch prahlerische Phrasen zu ver¬
tuschen, in solch feierlichem Momente doppelt lächerlich sein würde. Die
neulich im Gelbbuch veröffentlichte Broglie'sche Depesche hatte in der Zeich¬
nung der europäischen Stellung Frankreichs die Farben ohnehin bereits so
dick aufgetragen, daß die Gefahr einer komischen Wirkung zum mindesten
auf das nichtfranzösische Publikum nahe genug lag. Obendrein hatte grade
soeben die Affaire der deutschfeindlichen Hirtenbriefe verschiedener französischer
Bischöfe das nationale Hochgefühl empfindlich herabgedrückt. Wie entrüstet
immer die republikanischen Blätter sich stellen mögen, daß der Regierung
durch die klerikalen Heißsporne in ihren auswärtigen Beziehungen Verlegen¬
heiten bereitet werden, man darf doch überzeugt sein, daß jeder Franzose im
Stillen darüber die Faust ballt, daß seine Regierung gegenwärtig nicht im
Stande ist, die Beschwerden des Grafen Arnim wegen antideutscher Hetzereien
mit Entschiedenheit zurückzuweisen. Die ultramontanen Journale scheuen
sich sogar nicht, Jeden des Manuels an Patriotismus zu beschuldigen, der
den furibunden Bischöfen einen Zügel anlegen will, und die liberalen Or¬
gane sind weit entfernt, die bewußten Hirtenbriefe zu verurtheilen wegen der
maßlosen Frechheit, sich in die inneren Zwistigkeiten eines anderen Volkes als
kämpfende Partei einzumischen, sondern lediglich wegen der dermaligen mili¬
tärischen Schwäche Frankreichs. Gerade so widersetzte sich Thiers 1870 der
Kriegserklärung, nicht weil er die Jngerenz in die deutschen Dinge an sich
für verwerflich hielt, sondern weil ihm der Krieg in jenem Augenblicke nicht
opportun schien. Und so wird dieser Zwischenfall der Hirtenbriefe, wenn er
sonst keine Folgen hat, zum mindesten das Eine gezeigt haben, daß der alte
Chauvinismus gegen Deutschland sämmtlichen Factoren der öffentlichen
Meinung -- und auf diese allein kann es ankommen, nicht auf die politisch
todte oder willenlose Masse, von deren Friedseligkeit im Juli 1870 die anti-
bonaparttstischen Blätter nachträglich so viel zu rühmen wußten - unaus-


verlegt hat. Selbstverständlich fiel es keinem Pariser ein, die Fahrt nach
Versailles dranzuwenden, um dort Zeuge des wiederhergestellten „Prestige"
seines Vaterlandes zu sein. Und doch war für dies Prestige Heuer ungleich
reichlicher Sorge getragen, als unter dem bürgerlichen Regime des Hrn. Thiers.
Mac Mahon hatte sich bei dem Empfange mit dem ganzen militärischen Pomp
des Kaiserreichs umgeben, und der Präsident der Nationalversammlung,
Hr. Büffet, gestattete sich bei der Auffahrt einen Luxus der Eskorte, wie man
ihn nur an der Kaiserin Eugenie gekannt hatte. Im Uebrigen entsprach
der Verlauf der Ceremonie, unter dem Gesichtspunkte der europäischen Politik
betrachtet, dem geringen Einfluß, welchen Frankreich auf den Gang der letzteren
heutzutage ausübt.

Mac Mahon und seine Minister sind klug genug, um zu begreifen, daß
ein Versuch, dies thatsächliche Verhältniß durch prahlerische Phrasen zu ver¬
tuschen, in solch feierlichem Momente doppelt lächerlich sein würde. Die
neulich im Gelbbuch veröffentlichte Broglie'sche Depesche hatte in der Zeich¬
nung der europäischen Stellung Frankreichs die Farben ohnehin bereits so
dick aufgetragen, daß die Gefahr einer komischen Wirkung zum mindesten
auf das nichtfranzösische Publikum nahe genug lag. Obendrein hatte grade
soeben die Affaire der deutschfeindlichen Hirtenbriefe verschiedener französischer
Bischöfe das nationale Hochgefühl empfindlich herabgedrückt. Wie entrüstet
immer die republikanischen Blätter sich stellen mögen, daß der Regierung
durch die klerikalen Heißsporne in ihren auswärtigen Beziehungen Verlegen¬
heiten bereitet werden, man darf doch überzeugt sein, daß jeder Franzose im
Stillen darüber die Faust ballt, daß seine Regierung gegenwärtig nicht im
Stande ist, die Beschwerden des Grafen Arnim wegen antideutscher Hetzereien
mit Entschiedenheit zurückzuweisen. Die ultramontanen Journale scheuen
sich sogar nicht, Jeden des Manuels an Patriotismus zu beschuldigen, der
den furibunden Bischöfen einen Zügel anlegen will, und die liberalen Or¬
gane sind weit entfernt, die bewußten Hirtenbriefe zu verurtheilen wegen der
maßlosen Frechheit, sich in die inneren Zwistigkeiten eines anderen Volkes als
kämpfende Partei einzumischen, sondern lediglich wegen der dermaligen mili¬
tärischen Schwäche Frankreichs. Gerade so widersetzte sich Thiers 1870 der
Kriegserklärung, nicht weil er die Jngerenz in die deutschen Dinge an sich
für verwerflich hielt, sondern weil ihm der Krieg in jenem Augenblicke nicht
opportun schien. Und so wird dieser Zwischenfall der Hirtenbriefe, wenn er
sonst keine Folgen hat, zum mindesten das Eine gezeigt haben, daß der alte
Chauvinismus gegen Deutschland sämmtlichen Factoren der öffentlichen
Meinung — und auf diese allein kann es ankommen, nicht auf die politisch
todte oder willenlose Masse, von deren Friedseligkeit im Juli 1870 die anti-
bonaparttstischen Blätter nachträglich so viel zu rühmen wußten - unaus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/74>, abgerufen am 25.12.2024.