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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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vor dem entscheidenden Schlage zu sammeln, angetreten -- sehen konnte.
Schon daß das Ministerium sich lediglich durch Herrn Magne's Einwendungen
zu seiner Warnung vor Uebereilung hätte bestimmen lassen sollen, war im
höchsten Grade unwahrscheinlich; daß aber gar die Mehrheit, die von Un¬
geduld verzehrt wurde, sich auf ihrem Wege durch einen völlig nichtigen Vor-
wande hemmen ließ, mußte geradezu unbegreiflich erscheinen.

Die wahre Ursache sowohl für die Haltung des Ministeriums als auch
der Abgeordneten der Mehrheit war vermuthlich, daß schon damals denjenigen,
welche von den Stimmungen am Frohsdorfer Hofe genauere Kenntniß hatten,
trotz der so zuversichtlichen und in gutem Glauben gegebenen Erklärungen des
Herrn Chesnelong von Neuem Zweifel an den Absichten des Grafen von
Chambord aufgestiegen waren. Die klerikalen Blätter donnerten heftiger denn
je gegen den Liberalismus und die dreifarbige Fahne und forderten mit Un¬
gestüm die bedingungslose Wiederherstellung des reinen Königthums und die
Unterwerfung der Nationalversammlung unter das Herrscherwort Heinrich's V.,
der nur, wenn er von allen Fesseln und Bedingungen frei, den Thron seiner
Ahnen bestiegen, in Frankreich und Europa Gesetz und Ordnung herzustellen
im Stande wäre. Diese Sprache einer Partei, deren Einfluß auf den Prinzen
allgemein bekannt war, mußte allerdings in hohem Grade verdächtig erscheinen
und zur Vorsicht mahnen. Noch hatte der Graf nur durch Bevollmächtigte
sich vernehmen lassen; warum vermied er es, das Wort zu ergreifen und das
letzte Bedenken über seine Absichten zu zerstreuen? Es war erklärlich, daß
dieser verdächtige Umstand auf die Minister und vor Allem auf Mac Mahon
selbst einen starken Eindruck machte; und in der That finden sich in Mac
Mahon's Haltung deutliche Spuren einer Wandlung, die sich in den letzten
Tagen vollzogen hatte.

Ob Mac Mahon von Anfang an mit wohlwollender Theilnahme auf
die Bestrebungen der Fusionisten geblickt hatte, oder nur geschehen ließ, was
zu hindern er weder das Recht, noch die erforderliche Willenskraft hatte, da¬
rüber ruhte ein Dunkel, das selbst Broglie's Spürkraft vielleicht nicht zu
durchdringen vermochte. Davon indessen war Jedermann überzeugt, daß die
Royalisten, welches auch seine Gesinnungen sein mochten, keinen thätigen
Widerstand von seiner Seite zu befürchten hatten. Er hatte sich wiederholt
als Werkzeug und Vollstrecker der Beschlüsse der Mehrheit bekannt, und
schwerlich glaubte selbst Gambetta, wie viel abgeschmackte Schmeicheleien er
auch an den loyalen Degen, den Ritter ohne Furcht und Tadel verschwen¬
dete, daß Mac Mahon der Ausführung eines Mehrheitsbeschlusses sich wieder¬
setzen werde. Die Royalisten waren mit der Zurückhaltung des Marschalls,
so lange sie noch in der Vorbereitung begriffen waren, auch ganz zufrieden.
Unmittelbar vor der Abstimmung dagegen mußte ihnen, besonders der Unent-


Grmzboten I. 1874. 62

vor dem entscheidenden Schlage zu sammeln, angetreten — sehen konnte.
Schon daß das Ministerium sich lediglich durch Herrn Magne's Einwendungen
zu seiner Warnung vor Uebereilung hätte bestimmen lassen sollen, war im
höchsten Grade unwahrscheinlich; daß aber gar die Mehrheit, die von Un¬
geduld verzehrt wurde, sich auf ihrem Wege durch einen völlig nichtigen Vor-
wande hemmen ließ, mußte geradezu unbegreiflich erscheinen.

Die wahre Ursache sowohl für die Haltung des Ministeriums als auch
der Abgeordneten der Mehrheit war vermuthlich, daß schon damals denjenigen,
welche von den Stimmungen am Frohsdorfer Hofe genauere Kenntniß hatten,
trotz der so zuversichtlichen und in gutem Glauben gegebenen Erklärungen des
Herrn Chesnelong von Neuem Zweifel an den Absichten des Grafen von
Chambord aufgestiegen waren. Die klerikalen Blätter donnerten heftiger denn
je gegen den Liberalismus und die dreifarbige Fahne und forderten mit Un¬
gestüm die bedingungslose Wiederherstellung des reinen Königthums und die
Unterwerfung der Nationalversammlung unter das Herrscherwort Heinrich's V.,
der nur, wenn er von allen Fesseln und Bedingungen frei, den Thron seiner
Ahnen bestiegen, in Frankreich und Europa Gesetz und Ordnung herzustellen
im Stande wäre. Diese Sprache einer Partei, deren Einfluß auf den Prinzen
allgemein bekannt war, mußte allerdings in hohem Grade verdächtig erscheinen
und zur Vorsicht mahnen. Noch hatte der Graf nur durch Bevollmächtigte
sich vernehmen lassen; warum vermied er es, das Wort zu ergreifen und das
letzte Bedenken über seine Absichten zu zerstreuen? Es war erklärlich, daß
dieser verdächtige Umstand auf die Minister und vor Allem auf Mac Mahon
selbst einen starken Eindruck machte; und in der That finden sich in Mac
Mahon's Haltung deutliche Spuren einer Wandlung, die sich in den letzten
Tagen vollzogen hatte.

Ob Mac Mahon von Anfang an mit wohlwollender Theilnahme auf
die Bestrebungen der Fusionisten geblickt hatte, oder nur geschehen ließ, was
zu hindern er weder das Recht, noch die erforderliche Willenskraft hatte, da¬
rüber ruhte ein Dunkel, das selbst Broglie's Spürkraft vielleicht nicht zu
durchdringen vermochte. Davon indessen war Jedermann überzeugt, daß die
Royalisten, welches auch seine Gesinnungen sein mochten, keinen thätigen
Widerstand von seiner Seite zu befürchten hatten. Er hatte sich wiederholt
als Werkzeug und Vollstrecker der Beschlüsse der Mehrheit bekannt, und
schwerlich glaubte selbst Gambetta, wie viel abgeschmackte Schmeicheleien er
auch an den loyalen Degen, den Ritter ohne Furcht und Tadel verschwen¬
dete, daß Mac Mahon der Ausführung eines Mehrheitsbeschlusses sich wieder¬
setzen werde. Die Royalisten waren mit der Zurückhaltung des Marschalls,
so lange sie noch in der Vorbereitung begriffen waren, auch ganz zufrieden.
Unmittelbar vor der Abstimmung dagegen mußte ihnen, besonders der Unent-


Grmzboten I. 1874. 62
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[0495] vor dem entscheidenden Schlage zu sammeln, angetreten — sehen konnte. Schon daß das Ministerium sich lediglich durch Herrn Magne's Einwendungen zu seiner Warnung vor Uebereilung hätte bestimmen lassen sollen, war im höchsten Grade unwahrscheinlich; daß aber gar die Mehrheit, die von Un¬ geduld verzehrt wurde, sich auf ihrem Wege durch einen völlig nichtigen Vor- wande hemmen ließ, mußte geradezu unbegreiflich erscheinen. Die wahre Ursache sowohl für die Haltung des Ministeriums als auch der Abgeordneten der Mehrheit war vermuthlich, daß schon damals denjenigen, welche von den Stimmungen am Frohsdorfer Hofe genauere Kenntniß hatten, trotz der so zuversichtlichen und in gutem Glauben gegebenen Erklärungen des Herrn Chesnelong von Neuem Zweifel an den Absichten des Grafen von Chambord aufgestiegen waren. Die klerikalen Blätter donnerten heftiger denn je gegen den Liberalismus und die dreifarbige Fahne und forderten mit Un¬ gestüm die bedingungslose Wiederherstellung des reinen Königthums und die Unterwerfung der Nationalversammlung unter das Herrscherwort Heinrich's V., der nur, wenn er von allen Fesseln und Bedingungen frei, den Thron seiner Ahnen bestiegen, in Frankreich und Europa Gesetz und Ordnung herzustellen im Stande wäre. Diese Sprache einer Partei, deren Einfluß auf den Prinzen allgemein bekannt war, mußte allerdings in hohem Grade verdächtig erscheinen und zur Vorsicht mahnen. Noch hatte der Graf nur durch Bevollmächtigte sich vernehmen lassen; warum vermied er es, das Wort zu ergreifen und das letzte Bedenken über seine Absichten zu zerstreuen? Es war erklärlich, daß dieser verdächtige Umstand auf die Minister und vor Allem auf Mac Mahon selbst einen starken Eindruck machte; und in der That finden sich in Mac Mahon's Haltung deutliche Spuren einer Wandlung, die sich in den letzten Tagen vollzogen hatte. Ob Mac Mahon von Anfang an mit wohlwollender Theilnahme auf die Bestrebungen der Fusionisten geblickt hatte, oder nur geschehen ließ, was zu hindern er weder das Recht, noch die erforderliche Willenskraft hatte, da¬ rüber ruhte ein Dunkel, das selbst Broglie's Spürkraft vielleicht nicht zu durchdringen vermochte. Davon indessen war Jedermann überzeugt, daß die Royalisten, welches auch seine Gesinnungen sein mochten, keinen thätigen Widerstand von seiner Seite zu befürchten hatten. Er hatte sich wiederholt als Werkzeug und Vollstrecker der Beschlüsse der Mehrheit bekannt, und schwerlich glaubte selbst Gambetta, wie viel abgeschmackte Schmeicheleien er auch an den loyalen Degen, den Ritter ohne Furcht und Tadel verschwen¬ dete, daß Mac Mahon der Ausführung eines Mehrheitsbeschlusses sich wieder¬ setzen werde. Die Royalisten waren mit der Zurückhaltung des Marschalls, so lange sie noch in der Vorbereitung begriffen waren, auch ganz zufrieden. Unmittelbar vor der Abstimmung dagegen mußte ihnen, besonders der Unent- Grmzboten I. 1874. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/495>, abgerufen am 26.12.2024.