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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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tige Symbol der Erblichkeit gewesen, so hätte Niemand, der die Erbmo¬
narchie wiederherstellen wollte, sie zurückweisen können. Aber um eine Wie¬
derherstellung der Erbmonarchie handelte es sich nach der mystischen
Weltanschauung des wunderlichen Prätendenten gar nicht. Denn sie hatte
niemals aufgehört zu extstiren. Die erste Republik und das erste Kaiserthum war
nur eine revolutionäre Episode gewesen, und ebenso hatte sich Frankreich
während der 43 Jahre, die seit der Juli-Revolution verflossen waren, im
Zustande der Revolution befunden, woraus sich dann von selbst die Folge¬
rung ergab, daß kein in jener Zeit gegebenes Gesetz Rechtskraft hatte, daß
alle die gewaltigen Veränderungen in Staat und Gesellschaft, welche ihren
Ursprung jener Zeit verdankten, der Bestätigung durch den rechtmäßigen
König bedurften, um Gültigkeit zu erlangen.

Nun konnte allerdings kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß der Graf
von Chambord selbst nicht daran dachte, das Regime der alten vorrevolutio¬
nären Monarchie ohne Weiteres in seiner ganzen Ausdehnung wiederherzu-
stellen. So viel aber war doch klar, daß nach dem wiederholt in Privat¬
schreiben von dem Prätendenten entwickelten Programm alles Bestehende we¬
nigstens in Frage gestellt wurde, daß er allein für sich das Recht der
Entscheidung darüber beanspruchte, ob irgend eine Einrichtung mit dem We¬
sen der Monarchie verträglich sei oder nicht, und daß dadurch alle Rechts¬
sicherheit in einem Grade erschüttert wurde, der weit über die Wirkungen der
Revolution selbst, deren Aera der Graf zum Abschluß bringen wollte, hinaus¬
ging. Daß selbst der doctrinärste Fanatiker des Legitimismus mit den Ein¬
richtungen des neuen Frankreichs nicht tabula, räh" machen würde, das war
allerdings selbstverständlich. Wer aber konnte wissen, wo der reactionäre
Reformtrieb beginnen, wo endigen würde? Darüber hatte der Graf von
Chambord in keiner seiner von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Kundgebungen
Andeutungen gemacht. Wessen die Doctrinäre des Legitimitätsprincips fähig
waren, hatte man noch 1813 zur Genüge erfahren, wo Habsucht, Rachsucht,
und Fanatismus gewetteifert hatten, die wiederhergestellte Monarchie zu
untergraben, noch ehe sie festbegründet war, wo die Männer des weißen
Schreckens es darauf anzulegen schienen, nicht hinter ihren rothen Vorgän¬
gern von 1793 zurückzubleiben. Und beweisen nicht die wüthenden Ausfälle
der ultralegitimistischen und der mit ihnen eng verbündeten klerikalen Blätter
gegen die gesammte Staats- und Gesellschaftsordnung der Gegenwart, daß
die Anschauungen, von welchen die Fanatiker von 1815 geleitet wurden, auch
heutigen Tages noch nicht ausgestorben sind? und grade die Ansichten dieser
Fanatiker waren es, welche die weiße Fahne deckte.

Es kommt aber noch ein anderer Umstand hinzu. Die Lehren, welche
seit Jahren vom "Univers" und den übrigen klerikalen Blättern gepredigt sind,


tige Symbol der Erblichkeit gewesen, so hätte Niemand, der die Erbmo¬
narchie wiederherstellen wollte, sie zurückweisen können. Aber um eine Wie¬
derherstellung der Erbmonarchie handelte es sich nach der mystischen
Weltanschauung des wunderlichen Prätendenten gar nicht. Denn sie hatte
niemals aufgehört zu extstiren. Die erste Republik und das erste Kaiserthum war
nur eine revolutionäre Episode gewesen, und ebenso hatte sich Frankreich
während der 43 Jahre, die seit der Juli-Revolution verflossen waren, im
Zustande der Revolution befunden, woraus sich dann von selbst die Folge¬
rung ergab, daß kein in jener Zeit gegebenes Gesetz Rechtskraft hatte, daß
alle die gewaltigen Veränderungen in Staat und Gesellschaft, welche ihren
Ursprung jener Zeit verdankten, der Bestätigung durch den rechtmäßigen
König bedurften, um Gültigkeit zu erlangen.

Nun konnte allerdings kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß der Graf
von Chambord selbst nicht daran dachte, das Regime der alten vorrevolutio¬
nären Monarchie ohne Weiteres in seiner ganzen Ausdehnung wiederherzu-
stellen. So viel aber war doch klar, daß nach dem wiederholt in Privat¬
schreiben von dem Prätendenten entwickelten Programm alles Bestehende we¬
nigstens in Frage gestellt wurde, daß er allein für sich das Recht der
Entscheidung darüber beanspruchte, ob irgend eine Einrichtung mit dem We¬
sen der Monarchie verträglich sei oder nicht, und daß dadurch alle Rechts¬
sicherheit in einem Grade erschüttert wurde, der weit über die Wirkungen der
Revolution selbst, deren Aera der Graf zum Abschluß bringen wollte, hinaus¬
ging. Daß selbst der doctrinärste Fanatiker des Legitimismus mit den Ein¬
richtungen des neuen Frankreichs nicht tabula, räh» machen würde, das war
allerdings selbstverständlich. Wer aber konnte wissen, wo der reactionäre
Reformtrieb beginnen, wo endigen würde? Darüber hatte der Graf von
Chambord in keiner seiner von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Kundgebungen
Andeutungen gemacht. Wessen die Doctrinäre des Legitimitätsprincips fähig
waren, hatte man noch 1813 zur Genüge erfahren, wo Habsucht, Rachsucht,
und Fanatismus gewetteifert hatten, die wiederhergestellte Monarchie zu
untergraben, noch ehe sie festbegründet war, wo die Männer des weißen
Schreckens es darauf anzulegen schienen, nicht hinter ihren rothen Vorgän¬
gern von 1793 zurückzubleiben. Und beweisen nicht die wüthenden Ausfälle
der ultralegitimistischen und der mit ihnen eng verbündeten klerikalen Blätter
gegen die gesammte Staats- und Gesellschaftsordnung der Gegenwart, daß
die Anschauungen, von welchen die Fanatiker von 1815 geleitet wurden, auch
heutigen Tages noch nicht ausgestorben sind? und grade die Ansichten dieser
Fanatiker waren es, welche die weiße Fahne deckte.

Es kommt aber noch ein anderer Umstand hinzu. Die Lehren, welche
seit Jahren vom „Univers" und den übrigen klerikalen Blättern gepredigt sind,


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[0408] tige Symbol der Erblichkeit gewesen, so hätte Niemand, der die Erbmo¬ narchie wiederherstellen wollte, sie zurückweisen können. Aber um eine Wie¬ derherstellung der Erbmonarchie handelte es sich nach der mystischen Weltanschauung des wunderlichen Prätendenten gar nicht. Denn sie hatte niemals aufgehört zu extstiren. Die erste Republik und das erste Kaiserthum war nur eine revolutionäre Episode gewesen, und ebenso hatte sich Frankreich während der 43 Jahre, die seit der Juli-Revolution verflossen waren, im Zustande der Revolution befunden, woraus sich dann von selbst die Folge¬ rung ergab, daß kein in jener Zeit gegebenes Gesetz Rechtskraft hatte, daß alle die gewaltigen Veränderungen in Staat und Gesellschaft, welche ihren Ursprung jener Zeit verdankten, der Bestätigung durch den rechtmäßigen König bedurften, um Gültigkeit zu erlangen. Nun konnte allerdings kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß der Graf von Chambord selbst nicht daran dachte, das Regime der alten vorrevolutio¬ nären Monarchie ohne Weiteres in seiner ganzen Ausdehnung wiederherzu- stellen. So viel aber war doch klar, daß nach dem wiederholt in Privat¬ schreiben von dem Prätendenten entwickelten Programm alles Bestehende we¬ nigstens in Frage gestellt wurde, daß er allein für sich das Recht der Entscheidung darüber beanspruchte, ob irgend eine Einrichtung mit dem We¬ sen der Monarchie verträglich sei oder nicht, und daß dadurch alle Rechts¬ sicherheit in einem Grade erschüttert wurde, der weit über die Wirkungen der Revolution selbst, deren Aera der Graf zum Abschluß bringen wollte, hinaus¬ ging. Daß selbst der doctrinärste Fanatiker des Legitimismus mit den Ein¬ richtungen des neuen Frankreichs nicht tabula, räh» machen würde, das war allerdings selbstverständlich. Wer aber konnte wissen, wo der reactionäre Reformtrieb beginnen, wo endigen würde? Darüber hatte der Graf von Chambord in keiner seiner von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Kundgebungen Andeutungen gemacht. Wessen die Doctrinäre des Legitimitätsprincips fähig waren, hatte man noch 1813 zur Genüge erfahren, wo Habsucht, Rachsucht, und Fanatismus gewetteifert hatten, die wiederhergestellte Monarchie zu untergraben, noch ehe sie festbegründet war, wo die Männer des weißen Schreckens es darauf anzulegen schienen, nicht hinter ihren rothen Vorgän¬ gern von 1793 zurückzubleiben. Und beweisen nicht die wüthenden Ausfälle der ultralegitimistischen und der mit ihnen eng verbündeten klerikalen Blätter gegen die gesammte Staats- und Gesellschaftsordnung der Gegenwart, daß die Anschauungen, von welchen die Fanatiker von 1815 geleitet wurden, auch heutigen Tages noch nicht ausgestorben sind? und grade die Ansichten dieser Fanatiker waren es, welche die weiße Fahne deckte. Es kommt aber noch ein anderer Umstand hinzu. Die Lehren, welche seit Jahren vom „Univers" und den übrigen klerikalen Blättern gepredigt sind,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/408>, abgerufen am 25.12.2024.