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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Gliederung entsprang natürlich ein hoher Grad von Selbständigkeit der
Unterabtheilungen und der Unterführer, und da nun in der Folge, zumal in
den Landen der allgemeinen Wehrpflicht und der allgemeinen Schulpflicht jener
taktischen Individualisirung von Oben eine persönliche Individualisirung
von Unten her, d. h, aus den Kreisen der Subalternofsiziere und der höher
gebildeten Mannschaft entgegenkam, so ergab sich eine außerordentlich ge¬
steigerte Beweglichkeit der Theile, die jedoch nicht mehr mens a n i s es e r Natur
war und nicht mehr ausschließlich auf dem Exerzitnun beruhte, vielmehr orga¬
nisch und geistig begründet erscheint. Ihren stylistischen Ausdruck fand
diese Entwickelung in der Schöpfung der preußischen Kompagniekolonnen,
welche das legivnare Treffensystem, das ehemals nur im ganzen Heer, dann
in den Corps, den Divisionen, den Brigaden zur Geltung gekommen war,
nun auf das Bataillon übertrug, und welche schon dadurch, daß hier ein
kleiner Bruchtheil der Legion, nämlich das einzelne Manipel, unter Umstän¬
den berufen wird, als Kolonne, d. h, als selbständig fechtende Phalanx auf¬
zutreten, aufs deutlichste zeigt, wie vollkommen die beiden allen Haupt¬
stylrichtungen der Taktik in unserer modernen Fechtweise verschmolzen sind.

Preußen hatte durch diese taktische Neugestaltung, sowie durch die erste
Einführung der Hinterladerwaffen alle andern Heere überflügelt. Und doch
bewiesen die gewaltigen Kriege unserer Tage, namentlich die Feldzüge in
Frankreich, daß die Praxis des Gefechtes noch weiter vorwärts drängt auf
der Bahn der Individualisirung und der Beweglichkett.

Wie in der Gegenwart an die Architectur die Aufgabe herangetreten ist,
riesenhafte Bauten zu schaffen, von deren Großräumigkeit sich die Vergangen¬
heit nichts träumen ließ, lichte Decken aufzuspannen über Centralbahnhöfe
und Weltausstellungspaläste, so treten analoge Aufgaben auch an die Taktik
heran. -- Der Maaßstab für die Räume eines Schlachtfeldes ist die wirksame
Schußweite der Fernwaffen: bei den Alten die Tragwette des Pfeiles oder
des Plinins, im Mittelalter die der Armbrust oder der Hakenbüchse, heut' die
des Hinterladers und der gezogenen Kanone. -- Das Wachsthum der Heere
hält allerdings gleichen Schritt mit der Ausdehnung jenes Maaßstabes und
würde es vielleicht möglich machen, auch in den hergebrachten Formen
den Raum des neuen Schlachtfeldes auszufüllen und den Gefechtszweck zu
erreichen; damit aber würde sich die Zahl der Opfer bis ins Unerträgliche
steigern; und eine der vornehmsten Anforderungen an jedes Kunstwerk: daß es
nämlich den idealen Gedanken (hier also den Sieg) in möglichster Reinheit
und mit dem geringsten Aufwand äußerer Mittel zur Erscheinung bringe,
würde unbefriedigt bleiben müssen. -- Doch wie es die Baukunst nicht ver¬
sucht, jene gewaltigen Hallen, die sie dem Verkehrswesen oder der Industrie
errichtet, mit Balkenzudecken oder mit massiven Bögen zu überwölben, vielmehr


Gliederung entsprang natürlich ein hoher Grad von Selbständigkeit der
Unterabtheilungen und der Unterführer, und da nun in der Folge, zumal in
den Landen der allgemeinen Wehrpflicht und der allgemeinen Schulpflicht jener
taktischen Individualisirung von Oben eine persönliche Individualisirung
von Unten her, d. h, aus den Kreisen der Subalternofsiziere und der höher
gebildeten Mannschaft entgegenkam, so ergab sich eine außerordentlich ge¬
steigerte Beweglichkeit der Theile, die jedoch nicht mehr mens a n i s es e r Natur
war und nicht mehr ausschließlich auf dem Exerzitnun beruhte, vielmehr orga¬
nisch und geistig begründet erscheint. Ihren stylistischen Ausdruck fand
diese Entwickelung in der Schöpfung der preußischen Kompagniekolonnen,
welche das legivnare Treffensystem, das ehemals nur im ganzen Heer, dann
in den Corps, den Divisionen, den Brigaden zur Geltung gekommen war,
nun auf das Bataillon übertrug, und welche schon dadurch, daß hier ein
kleiner Bruchtheil der Legion, nämlich das einzelne Manipel, unter Umstän¬
den berufen wird, als Kolonne, d. h, als selbständig fechtende Phalanx auf¬
zutreten, aufs deutlichste zeigt, wie vollkommen die beiden allen Haupt¬
stylrichtungen der Taktik in unserer modernen Fechtweise verschmolzen sind.

Preußen hatte durch diese taktische Neugestaltung, sowie durch die erste
Einführung der Hinterladerwaffen alle andern Heere überflügelt. Und doch
bewiesen die gewaltigen Kriege unserer Tage, namentlich die Feldzüge in
Frankreich, daß die Praxis des Gefechtes noch weiter vorwärts drängt auf
der Bahn der Individualisirung und der Beweglichkett.

Wie in der Gegenwart an die Architectur die Aufgabe herangetreten ist,
riesenhafte Bauten zu schaffen, von deren Großräumigkeit sich die Vergangen¬
heit nichts träumen ließ, lichte Decken aufzuspannen über Centralbahnhöfe
und Weltausstellungspaläste, so treten analoge Aufgaben auch an die Taktik
heran. — Der Maaßstab für die Räume eines Schlachtfeldes ist die wirksame
Schußweite der Fernwaffen: bei den Alten die Tragwette des Pfeiles oder
des Plinins, im Mittelalter die der Armbrust oder der Hakenbüchse, heut' die
des Hinterladers und der gezogenen Kanone. — Das Wachsthum der Heere
hält allerdings gleichen Schritt mit der Ausdehnung jenes Maaßstabes und
würde es vielleicht möglich machen, auch in den hergebrachten Formen
den Raum des neuen Schlachtfeldes auszufüllen und den Gefechtszweck zu
erreichen; damit aber würde sich die Zahl der Opfer bis ins Unerträgliche
steigern; und eine der vornehmsten Anforderungen an jedes Kunstwerk: daß es
nämlich den idealen Gedanken (hier also den Sieg) in möglichster Reinheit
und mit dem geringsten Aufwand äußerer Mittel zur Erscheinung bringe,
würde unbefriedigt bleiben müssen. — Doch wie es die Baukunst nicht ver¬
sucht, jene gewaltigen Hallen, die sie dem Verkehrswesen oder der Industrie
errichtet, mit Balkenzudecken oder mit massiven Bögen zu überwölben, vielmehr


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[0308] Gliederung entsprang natürlich ein hoher Grad von Selbständigkeit der Unterabtheilungen und der Unterführer, und da nun in der Folge, zumal in den Landen der allgemeinen Wehrpflicht und der allgemeinen Schulpflicht jener taktischen Individualisirung von Oben eine persönliche Individualisirung von Unten her, d. h, aus den Kreisen der Subalternofsiziere und der höher gebildeten Mannschaft entgegenkam, so ergab sich eine außerordentlich ge¬ steigerte Beweglichkeit der Theile, die jedoch nicht mehr mens a n i s es e r Natur war und nicht mehr ausschließlich auf dem Exerzitnun beruhte, vielmehr orga¬ nisch und geistig begründet erscheint. Ihren stylistischen Ausdruck fand diese Entwickelung in der Schöpfung der preußischen Kompagniekolonnen, welche das legivnare Treffensystem, das ehemals nur im ganzen Heer, dann in den Corps, den Divisionen, den Brigaden zur Geltung gekommen war, nun auf das Bataillon übertrug, und welche schon dadurch, daß hier ein kleiner Bruchtheil der Legion, nämlich das einzelne Manipel, unter Umstän¬ den berufen wird, als Kolonne, d. h, als selbständig fechtende Phalanx auf¬ zutreten, aufs deutlichste zeigt, wie vollkommen die beiden allen Haupt¬ stylrichtungen der Taktik in unserer modernen Fechtweise verschmolzen sind. Preußen hatte durch diese taktische Neugestaltung, sowie durch die erste Einführung der Hinterladerwaffen alle andern Heere überflügelt. Und doch bewiesen die gewaltigen Kriege unserer Tage, namentlich die Feldzüge in Frankreich, daß die Praxis des Gefechtes noch weiter vorwärts drängt auf der Bahn der Individualisirung und der Beweglichkett. Wie in der Gegenwart an die Architectur die Aufgabe herangetreten ist, riesenhafte Bauten zu schaffen, von deren Großräumigkeit sich die Vergangen¬ heit nichts träumen ließ, lichte Decken aufzuspannen über Centralbahnhöfe und Weltausstellungspaläste, so treten analoge Aufgaben auch an die Taktik heran. — Der Maaßstab für die Räume eines Schlachtfeldes ist die wirksame Schußweite der Fernwaffen: bei den Alten die Tragwette des Pfeiles oder des Plinins, im Mittelalter die der Armbrust oder der Hakenbüchse, heut' die des Hinterladers und der gezogenen Kanone. — Das Wachsthum der Heere hält allerdings gleichen Schritt mit der Ausdehnung jenes Maaßstabes und würde es vielleicht möglich machen, auch in den hergebrachten Formen den Raum des neuen Schlachtfeldes auszufüllen und den Gefechtszweck zu erreichen; damit aber würde sich die Zahl der Opfer bis ins Unerträgliche steigern; und eine der vornehmsten Anforderungen an jedes Kunstwerk: daß es nämlich den idealen Gedanken (hier also den Sieg) in möglichster Reinheit und mit dem geringsten Aufwand äußerer Mittel zur Erscheinung bringe, würde unbefriedigt bleiben müssen. — Doch wie es die Baukunst nicht ver¬ sucht, jene gewaltigen Hallen, die sie dem Verkehrswesen oder der Industrie errichtet, mit Balkenzudecken oder mit massiven Bögen zu überwölben, vielmehr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/308>, abgerufen am 25.12.2024.