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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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der französischen Revolution weit überschätzt worden. Sie beruhten zunächst
auf der Ueberraschung, auf jener seltsam lähmenden Wirkung, welche stets
das befremdende Neue ausübt, zumal wenn es aus so wilden Medusenaugen
starrt. -- Schon fingen auch jene Erfolge an, in ihr Gegentheil umzuschlagen,
als es den Führern des französischen Heeres gelang, diesem das Gleichgewicht
endlich wiederzugeben und in den chaotischen Tirailleurwvlken taktische Schwer¬
punkte zu markiren. Ein solcher Schwerpunkt war zunächst nichts anderes
als ein roher Gewalthaufe, eine zusammengeraffte Kolonne, eine unschöne
Phalanx, eine Verdichtung der Masse und der Macht, die an den Kern eines
Kometenschweifes mahnt und gerade durch diese ihre Entstehungsart als der
ächte Repräsentant des Jmperatorenthums in der Taktik erscheint. Mit ihr
begann die Dictatur Napoleon's. -- Der gräcisirende Styl des Empire ist
übrigens in der Kriegskunst ebenso unrein wie in den schönen Künsten. Wenn
auch das einzelne Heeresglied phalangitisch gestaltet erscheint, die Gesammt-
ordnung ist vom römischen Geiste dictirt; das legionare Treffenshstem liegt
ihr zu Grunde. Was aber dem künstlerischen Eklekticismus Bonaparte's seine
eigentliche Physiognomie giebt, das ist die Massen Wirkung. Massen be¬
reit zu halten. Massen bewegen zu können, Massen auf den entscheidenden
Punkt zu führen,*) Massen zurückzuhalten, um sie im Momente der Krisis
in die Wagschale zu werfen -- das ist das Charakteristikum des napoleoni-
schen Kriegsstyls.

Die Anwendung desselben Systems gegen Napoleon war es, was ihn
stürzte. -- Ein halbes Jahrhundert lang bewegte sich nun die Kriegskunst
Europas innerhalb eines Eklekticismus, der unter den Formen aller voran¬
gegangenen Zeiten nach Willkür wählte. Während sich indessen die Ueber¬
reste der Lineartaktik meist nur in den Reglements und Exerzitien erhielten,
erkannte man es immer deutlicher als die Stärke des napoleonischen Systems,
daß dies das Tirailleurgefecht mit der geschlossenen Masse verband. In sol¬
cher Verbindung erblickte man die Vermählung der Geschmeidigkeit mit der
Kraft und die Vereinigung der Selbstthätigkeit des einzelnen Mannes mit
der Wirksamkeit des sestgeleiteten Ganzen.'*) -- Dazu kam noch ein anderes
Moment. -- In dem Streben nach Massenwirkung hatte Napoleon große
Massen ein heilen geschaffen: Divisionen, Armee-Corps. Wenn diese nun
wirklich als Einheiten gebraucht werden sollten, so mußten sie selbständig ge¬
macht, d. h. mit allen Waffen ausgestattet und in sich treffenmäßig gegliedert
werden, wie das früher nur das ganze Heer gewesen war. Aus dieser




') Dieser Punkt ist bei Napoleon meist das Centrum des Feindes, nicht wie bei Fried¬
rich der eine Flügel.
") Uns>w: Geschichte der Infanterie. Nordhausc" t8K4,

der französischen Revolution weit überschätzt worden. Sie beruhten zunächst
auf der Ueberraschung, auf jener seltsam lähmenden Wirkung, welche stets
das befremdende Neue ausübt, zumal wenn es aus so wilden Medusenaugen
starrt. — Schon fingen auch jene Erfolge an, in ihr Gegentheil umzuschlagen,
als es den Führern des französischen Heeres gelang, diesem das Gleichgewicht
endlich wiederzugeben und in den chaotischen Tirailleurwvlken taktische Schwer¬
punkte zu markiren. Ein solcher Schwerpunkt war zunächst nichts anderes
als ein roher Gewalthaufe, eine zusammengeraffte Kolonne, eine unschöne
Phalanx, eine Verdichtung der Masse und der Macht, die an den Kern eines
Kometenschweifes mahnt und gerade durch diese ihre Entstehungsart als der
ächte Repräsentant des Jmperatorenthums in der Taktik erscheint. Mit ihr
begann die Dictatur Napoleon's. — Der gräcisirende Styl des Empire ist
übrigens in der Kriegskunst ebenso unrein wie in den schönen Künsten. Wenn
auch das einzelne Heeresglied phalangitisch gestaltet erscheint, die Gesammt-
ordnung ist vom römischen Geiste dictirt; das legionare Treffenshstem liegt
ihr zu Grunde. Was aber dem künstlerischen Eklekticismus Bonaparte's seine
eigentliche Physiognomie giebt, das ist die Massen Wirkung. Massen be¬
reit zu halten. Massen bewegen zu können, Massen auf den entscheidenden
Punkt zu führen,*) Massen zurückzuhalten, um sie im Momente der Krisis
in die Wagschale zu werfen — das ist das Charakteristikum des napoleoni-
schen Kriegsstyls.

Die Anwendung desselben Systems gegen Napoleon war es, was ihn
stürzte. — Ein halbes Jahrhundert lang bewegte sich nun die Kriegskunst
Europas innerhalb eines Eklekticismus, der unter den Formen aller voran¬
gegangenen Zeiten nach Willkür wählte. Während sich indessen die Ueber¬
reste der Lineartaktik meist nur in den Reglements und Exerzitien erhielten,
erkannte man es immer deutlicher als die Stärke des napoleonischen Systems,
daß dies das Tirailleurgefecht mit der geschlossenen Masse verband. In sol¬
cher Verbindung erblickte man die Vermählung der Geschmeidigkeit mit der
Kraft und die Vereinigung der Selbstthätigkeit des einzelnen Mannes mit
der Wirksamkeit des sestgeleiteten Ganzen.'*) — Dazu kam noch ein anderes
Moment. — In dem Streben nach Massenwirkung hatte Napoleon große
Massen ein heilen geschaffen: Divisionen, Armee-Corps. Wenn diese nun
wirklich als Einheiten gebraucht werden sollten, so mußten sie selbständig ge¬
macht, d. h. mit allen Waffen ausgestattet und in sich treffenmäßig gegliedert
werden, wie das früher nur das ganze Heer gewesen war. Aus dieser




') Dieser Punkt ist bei Napoleon meist das Centrum des Feindes, nicht wie bei Fried¬
rich der eine Flügel.
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[0307] der französischen Revolution weit überschätzt worden. Sie beruhten zunächst auf der Ueberraschung, auf jener seltsam lähmenden Wirkung, welche stets das befremdende Neue ausübt, zumal wenn es aus so wilden Medusenaugen starrt. — Schon fingen auch jene Erfolge an, in ihr Gegentheil umzuschlagen, als es den Führern des französischen Heeres gelang, diesem das Gleichgewicht endlich wiederzugeben und in den chaotischen Tirailleurwvlken taktische Schwer¬ punkte zu markiren. Ein solcher Schwerpunkt war zunächst nichts anderes als ein roher Gewalthaufe, eine zusammengeraffte Kolonne, eine unschöne Phalanx, eine Verdichtung der Masse und der Macht, die an den Kern eines Kometenschweifes mahnt und gerade durch diese ihre Entstehungsart als der ächte Repräsentant des Jmperatorenthums in der Taktik erscheint. Mit ihr begann die Dictatur Napoleon's. — Der gräcisirende Styl des Empire ist übrigens in der Kriegskunst ebenso unrein wie in den schönen Künsten. Wenn auch das einzelne Heeresglied phalangitisch gestaltet erscheint, die Gesammt- ordnung ist vom römischen Geiste dictirt; das legionare Treffenshstem liegt ihr zu Grunde. Was aber dem künstlerischen Eklekticismus Bonaparte's seine eigentliche Physiognomie giebt, das ist die Massen Wirkung. Massen be¬ reit zu halten. Massen bewegen zu können, Massen auf den entscheidenden Punkt zu führen,*) Massen zurückzuhalten, um sie im Momente der Krisis in die Wagschale zu werfen — das ist das Charakteristikum des napoleoni- schen Kriegsstyls. Die Anwendung desselben Systems gegen Napoleon war es, was ihn stürzte. — Ein halbes Jahrhundert lang bewegte sich nun die Kriegskunst Europas innerhalb eines Eklekticismus, der unter den Formen aller voran¬ gegangenen Zeiten nach Willkür wählte. Während sich indessen die Ueber¬ reste der Lineartaktik meist nur in den Reglements und Exerzitien erhielten, erkannte man es immer deutlicher als die Stärke des napoleonischen Systems, daß dies das Tirailleurgefecht mit der geschlossenen Masse verband. In sol¬ cher Verbindung erblickte man die Vermählung der Geschmeidigkeit mit der Kraft und die Vereinigung der Selbstthätigkeit des einzelnen Mannes mit der Wirksamkeit des sestgeleiteten Ganzen.'*) — Dazu kam noch ein anderes Moment. — In dem Streben nach Massenwirkung hatte Napoleon große Massen ein heilen geschaffen: Divisionen, Armee-Corps. Wenn diese nun wirklich als Einheiten gebraucht werden sollten, so mußten sie selbständig ge¬ macht, d. h. mit allen Waffen ausgestattet und in sich treffenmäßig gegliedert werden, wie das früher nur das ganze Heer gewesen war. Aus dieser ') Dieser Punkt ist bei Napoleon meist das Centrum des Feindes, nicht wie bei Fried¬ rich der eine Flügel. ") Uns>w: Geschichte der Infanterie. Nordhausc» t8K4,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/307>, abgerufen am 25.12.2024.