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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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meistentheils, die uns fast nie zu dem Eindrucke kommen lassen, daß er die
ihm vorschwebende Idee vollständig erfaßt und ganz und gar fixirt habe.
Seinem großen, auf das Gewaltige gerichteten Bestreben widersteht es nun
einmal, sich auf Kleinigkeiten einzulassen. Ueberhaupt ist es ihm fremd,
liebevoll auf das Werk eines andern einzugehn. Dem entspricht es auch, daß
er in seinen theoretischen Schriften nirgends eine eindringendere Kenntniß der
deutschen oder ausländischen Literatur verräth. Seine Urtheile darüber sind
immer allgemein, nicht gerade irrthümlich, aber auch niemals bedeutend. In¬
dessen, auch Shakespeare hat schwerlich den Aeschylus und Sophokles gekannt
-- könnten die Anhänger Wagner's sagen. Nun gut, wenn er nur in seinen
eigenen Werken das Studium solcher Vorbilder nicht vermissen läßt! Oder
wenn er in Details achtlos sein sollte, so möge nur der poetische Griff, den
er thut, genial und fruchtbringend sein. Unter diesem Gesichtspunkte wenden
wir uns noch einmal Wagner's jüngster*) Oper, dem fliegenden
Holländer, zu. Untersuchen wir, ob der gewählte Stoff geeignet war, für
die Bühne belebt und gestaltet zu werden.

Mancherlei läßt sich dagegen einwenden. Die Sage ist ihrem Wesen
nach episch. Ihre charakteristischen Züge -- die ewig langen Irrfahrten, die
vielen Versuche der Erlösung -- sind bühnlich nicht anschaulich zu machen.
Und nun der Holländer! Ein zweifelhaftes Mittelding, halb Mensch, halb
Gespenst! Das ganze schauerliche Dunkel des Märchens umgiebt diese Gestalt.
Ist solch ein Wesen, dessen Kern und Kraft eben in seinem Geheimniß besteht --
wohl dazu angethan, als Mittelpunkt der Handlung aus der Bühne zu
erscheinen? -- Diese Schwierigkeiten hat Wagner nun zum Theil glücklich
umgangen. Im sacrarium schließt er sich eng an Heine's Erzählung (Me¬
moiren des Herrn v. Schnabelewopski, Capitel VII.) an, der die Geschichte
der Erlösung des Holländers erfunden hat. Und mit Hülfe der Scenerie und
Musik hält er sich auch in dem natürlichen Tone der Sage; ein gewisser
grausiger Nimbus umgiebt seinen Holländer wirklich, vornehmlich während
der Auftrittsarie. Doch hiermit ist schließlich nichts geleistet. Auf den Ideen¬
gehalt der Sage kommt es an. Und an sich ist derselbe sehr ärmlich. Dieser
rüde, fluchende Schiffscapitän, den der Satan wegen eines unvorsichtigen
Wortes beim Kragen gefaßt hat, der mag den Seemann interessiren; dem
Opern-Publikum ist er ein "massiver" Aberglaube. Also hat Wagner wahr¬
scheinlich etwas besonderes mit der Sage gewollt; vielleicht hat er erkannt,
daß irgend ein tieferer Gedanke sich gerade in dieser Form am besten aus¬
drücken lasse, und darum die sonderbare Fabel gewählt. Wagner's Vor-



') Nach dem Datum der Aufführung, der Conception nach ist Rienzi früher.
Wrenzboten I. 1874. 28

meistentheils, die uns fast nie zu dem Eindrucke kommen lassen, daß er die
ihm vorschwebende Idee vollständig erfaßt und ganz und gar fixirt habe.
Seinem großen, auf das Gewaltige gerichteten Bestreben widersteht es nun
einmal, sich auf Kleinigkeiten einzulassen. Ueberhaupt ist es ihm fremd,
liebevoll auf das Werk eines andern einzugehn. Dem entspricht es auch, daß
er in seinen theoretischen Schriften nirgends eine eindringendere Kenntniß der
deutschen oder ausländischen Literatur verräth. Seine Urtheile darüber sind
immer allgemein, nicht gerade irrthümlich, aber auch niemals bedeutend. In¬
dessen, auch Shakespeare hat schwerlich den Aeschylus und Sophokles gekannt
— könnten die Anhänger Wagner's sagen. Nun gut, wenn er nur in seinen
eigenen Werken das Studium solcher Vorbilder nicht vermissen läßt! Oder
wenn er in Details achtlos sein sollte, so möge nur der poetische Griff, den
er thut, genial und fruchtbringend sein. Unter diesem Gesichtspunkte wenden
wir uns noch einmal Wagner's jüngster*) Oper, dem fliegenden
Holländer, zu. Untersuchen wir, ob der gewählte Stoff geeignet war, für
die Bühne belebt und gestaltet zu werden.

Mancherlei läßt sich dagegen einwenden. Die Sage ist ihrem Wesen
nach episch. Ihre charakteristischen Züge — die ewig langen Irrfahrten, die
vielen Versuche der Erlösung — sind bühnlich nicht anschaulich zu machen.
Und nun der Holländer! Ein zweifelhaftes Mittelding, halb Mensch, halb
Gespenst! Das ganze schauerliche Dunkel des Märchens umgiebt diese Gestalt.
Ist solch ein Wesen, dessen Kern und Kraft eben in seinem Geheimniß besteht —
wohl dazu angethan, als Mittelpunkt der Handlung aus der Bühne zu
erscheinen? — Diese Schwierigkeiten hat Wagner nun zum Theil glücklich
umgangen. Im sacrarium schließt er sich eng an Heine's Erzählung (Me¬
moiren des Herrn v. Schnabelewopski, Capitel VII.) an, der die Geschichte
der Erlösung des Holländers erfunden hat. Und mit Hülfe der Scenerie und
Musik hält er sich auch in dem natürlichen Tone der Sage; ein gewisser
grausiger Nimbus umgiebt seinen Holländer wirklich, vornehmlich während
der Auftrittsarie. Doch hiermit ist schließlich nichts geleistet. Auf den Ideen¬
gehalt der Sage kommt es an. Und an sich ist derselbe sehr ärmlich. Dieser
rüde, fluchende Schiffscapitän, den der Satan wegen eines unvorsichtigen
Wortes beim Kragen gefaßt hat, der mag den Seemann interessiren; dem
Opern-Publikum ist er ein „massiver" Aberglaube. Also hat Wagner wahr¬
scheinlich etwas besonderes mit der Sage gewollt; vielleicht hat er erkannt,
daß irgend ein tieferer Gedanke sich gerade in dieser Form am besten aus¬
drücken lasse, und darum die sonderbare Fabel gewählt. Wagner's Vor-



') Nach dem Datum der Aufführung, der Conception nach ist Rienzi früher.
Wrenzboten I. 1874. 28
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/223>, abgerufen am 24.06.2024.