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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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denke, für die Ultramontanen die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Zu¬
gleich ward alles Volk zur Beherrschung der nationalen Leidenschaft ermahnt
und jenes Wort der Ladmirault'schen Neujahrsrede von der Wiedererwer¬
bung der "xi'HpoiMrg.neL qu'lito (la ?ränne) äoit avoir" als ungenau
bezeichnet -- ein Dementi, welches freilich 14 Tage früher besser am Platze
gewesen wäre.

Schon war die kleine Aufregung fast wieder vergessen, als zu Anfang
dieser Woche die Suspension des "Univers" erfolgte aus dem offen angege¬
benen Grunde, weil seine Artikel und sonstige von ihm abgedruckte Actenstücke
diplomatische Verwicklungen zu verursachen geeignet seien. Alle Welt wußte,
wie sauer diese Maßregel dem Ministerium angekommen war, konnte also den
Ernst des Augenblicks leicht ermessen. Sofort war die Opposition bei der
Hand, unter dem Vorwande der Vertheidigung der verletzten Preßfreiheit aus
der Bedrängniß der Negierung Vortheil zu ziehen. Zum Glück bot der kle¬
rikale du Temple dem Minister des Aeußern unmittelbar darauf die will¬
kommene Gelegenheit, über das Verhältniß Frankreichs zu Italien eine so
verständige und loyale Darlegung zu geben, daß die Linke nolsns volens
Beifall klatschen mußte. Damit wird denn der auswärtige Zwischenfall wohl
seinen Abschluß gefunden haben.

Ob aber fortan das Vertrauen auf einen dauernden Frieden hergestellt
ist? Wer möchte es nicht wünschen! Wie die Dinge aber liegen, scheint
eher die Vermuthung begründet, daß das Mißtrauen durch die einstweilen
zwar beschwichtigten Befürchtungen nur noch vergrößert und der Revanchedurst
der französischen Chauvinisten durch die von der Noth des Augenblicks gebo¬
tene Freundlichkeit gegen Deutschland nur noch verstärkt ist.

Durch die kriegerischen Gerüchte ist die öffentliche Aufmerksamkeit von
den Debatten über das Mairegesetz, welche acht Tage lang im Versailler
Theatersaale geführt wurden, mehr oder weniger abgezogen worden. Freilich war
es auch von geringem Interesse, den verschwenderischen Aufwand von Rhetorik
und nutzlosen Demonstrationen der Linken zu beobachten; das Gesetz, welches
der Regierung die Ernennung der sämmtlichen Maires des ganzen Landes
anheimgiebt, war seit dem Vertrauensvotum vom 12. d. M. vollkommen ge¬
sichert. Die Centralisation der Verwaltung wird dadurch straffer als je, und
das in den Händen von Männern, die, ehe sie zur Regierung gelangten, die
Vorkämpfer der Decentralisation waren. Freilich, nach Broglte's Aussagen
ist mit dem Gesetz nur eine Ausnahmemaßregel beabsichtigt, die durch das
organische Gemeindegesetz beseitigt werden wird. Grade darin aber liegt die
schärfste Verurteilung; denn es wird damit eingestanden, daß man selbst zu
einem von der gegenwärtigen Nationalversammlung beschlossenen Gemeinde.


Grenzboten I. 1874. 26

denke, für die Ultramontanen die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Zu¬
gleich ward alles Volk zur Beherrschung der nationalen Leidenschaft ermahnt
und jenes Wort der Ladmirault'schen Neujahrsrede von der Wiedererwer¬
bung der „xi'HpoiMrg.neL qu'lito (la ?ränne) äoit avoir" als ungenau
bezeichnet — ein Dementi, welches freilich 14 Tage früher besser am Platze
gewesen wäre.

Schon war die kleine Aufregung fast wieder vergessen, als zu Anfang
dieser Woche die Suspension des „Univers" erfolgte aus dem offen angege¬
benen Grunde, weil seine Artikel und sonstige von ihm abgedruckte Actenstücke
diplomatische Verwicklungen zu verursachen geeignet seien. Alle Welt wußte,
wie sauer diese Maßregel dem Ministerium angekommen war, konnte also den
Ernst des Augenblicks leicht ermessen. Sofort war die Opposition bei der
Hand, unter dem Vorwande der Vertheidigung der verletzten Preßfreiheit aus
der Bedrängniß der Negierung Vortheil zu ziehen. Zum Glück bot der kle¬
rikale du Temple dem Minister des Aeußern unmittelbar darauf die will¬
kommene Gelegenheit, über das Verhältniß Frankreichs zu Italien eine so
verständige und loyale Darlegung zu geben, daß die Linke nolsns volens
Beifall klatschen mußte. Damit wird denn der auswärtige Zwischenfall wohl
seinen Abschluß gefunden haben.

Ob aber fortan das Vertrauen auf einen dauernden Frieden hergestellt
ist? Wer möchte es nicht wünschen! Wie die Dinge aber liegen, scheint
eher die Vermuthung begründet, daß das Mißtrauen durch die einstweilen
zwar beschwichtigten Befürchtungen nur noch vergrößert und der Revanchedurst
der französischen Chauvinisten durch die von der Noth des Augenblicks gebo¬
tene Freundlichkeit gegen Deutschland nur noch verstärkt ist.

Durch die kriegerischen Gerüchte ist die öffentliche Aufmerksamkeit von
den Debatten über das Mairegesetz, welche acht Tage lang im Versailler
Theatersaale geführt wurden, mehr oder weniger abgezogen worden. Freilich war
es auch von geringem Interesse, den verschwenderischen Aufwand von Rhetorik
und nutzlosen Demonstrationen der Linken zu beobachten; das Gesetz, welches
der Regierung die Ernennung der sämmtlichen Maires des ganzen Landes
anheimgiebt, war seit dem Vertrauensvotum vom 12. d. M. vollkommen ge¬
sichert. Die Centralisation der Verwaltung wird dadurch straffer als je, und
das in den Händen von Männern, die, ehe sie zur Regierung gelangten, die
Vorkämpfer der Decentralisation waren. Freilich, nach Broglte's Aussagen
ist mit dem Gesetz nur eine Ausnahmemaßregel beabsichtigt, die durch das
organische Gemeindegesetz beseitigt werden wird. Grade darin aber liegt die
schärfste Verurteilung; denn es wird damit eingestanden, daß man selbst zu
einem von der gegenwärtigen Nationalversammlung beschlossenen Gemeinde.


Grenzboten I. 1874. 26
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[0199] denke, für die Ultramontanen die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Zu¬ gleich ward alles Volk zur Beherrschung der nationalen Leidenschaft ermahnt und jenes Wort der Ladmirault'schen Neujahrsrede von der Wiedererwer¬ bung der „xi'HpoiMrg.neL qu'lito (la ?ränne) äoit avoir" als ungenau bezeichnet — ein Dementi, welches freilich 14 Tage früher besser am Platze gewesen wäre. Schon war die kleine Aufregung fast wieder vergessen, als zu Anfang dieser Woche die Suspension des „Univers" erfolgte aus dem offen angege¬ benen Grunde, weil seine Artikel und sonstige von ihm abgedruckte Actenstücke diplomatische Verwicklungen zu verursachen geeignet seien. Alle Welt wußte, wie sauer diese Maßregel dem Ministerium angekommen war, konnte also den Ernst des Augenblicks leicht ermessen. Sofort war die Opposition bei der Hand, unter dem Vorwande der Vertheidigung der verletzten Preßfreiheit aus der Bedrängniß der Negierung Vortheil zu ziehen. Zum Glück bot der kle¬ rikale du Temple dem Minister des Aeußern unmittelbar darauf die will¬ kommene Gelegenheit, über das Verhältniß Frankreichs zu Italien eine so verständige und loyale Darlegung zu geben, daß die Linke nolsns volens Beifall klatschen mußte. Damit wird denn der auswärtige Zwischenfall wohl seinen Abschluß gefunden haben. Ob aber fortan das Vertrauen auf einen dauernden Frieden hergestellt ist? Wer möchte es nicht wünschen! Wie die Dinge aber liegen, scheint eher die Vermuthung begründet, daß das Mißtrauen durch die einstweilen zwar beschwichtigten Befürchtungen nur noch vergrößert und der Revanchedurst der französischen Chauvinisten durch die von der Noth des Augenblicks gebo¬ tene Freundlichkeit gegen Deutschland nur noch verstärkt ist. Durch die kriegerischen Gerüchte ist die öffentliche Aufmerksamkeit von den Debatten über das Mairegesetz, welche acht Tage lang im Versailler Theatersaale geführt wurden, mehr oder weniger abgezogen worden. Freilich war es auch von geringem Interesse, den verschwenderischen Aufwand von Rhetorik und nutzlosen Demonstrationen der Linken zu beobachten; das Gesetz, welches der Regierung die Ernennung der sämmtlichen Maires des ganzen Landes anheimgiebt, war seit dem Vertrauensvotum vom 12. d. M. vollkommen ge¬ sichert. Die Centralisation der Verwaltung wird dadurch straffer als je, und das in den Händen von Männern, die, ehe sie zur Regierung gelangten, die Vorkämpfer der Decentralisation waren. Freilich, nach Broglte's Aussagen ist mit dem Gesetz nur eine Ausnahmemaßregel beabsichtigt, die durch das organische Gemeindegesetz beseitigt werden wird. Grade darin aber liegt die schärfste Verurteilung; denn es wird damit eingestanden, daß man selbst zu einem von der gegenwärtigen Nationalversammlung beschlossenen Gemeinde. Grenzboten I. 1874. 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/199>, abgerufen am 25.12.2024.