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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Kirchenregierung einen neuen Charakter an '): bisher hatte sie mit der Lei¬
tung der Welt im Großen und Ganzen sich begnügt, jetzt mischte sie in die
Details der Verwaltung sich ein, indem sie administrative und finanzielle Be¬
fugnisse überall und ununterbrochen für Rom ansprach. In dieser Gestalt
gefiel das Papstthum den einzelnen Nationen Europas weit weniger als
jenes der früheren Tage. Und nun steigerte sich im 14. Jahrhundert noch
der Ton des römischen Herrschers; jetzt war der "Stellvertreter Petri" zu
einem "Stellvertreter Gottes" auf der Erde geworden: ins ungeheuerliche
und übermenschliche wuchsen Theorie und Praxis, wie Rom sie bekannte
und übte.

Eine Reaction dagegen konnte nicht ausbleiben. Sie erfolgte von Seiten
der einzelnen Staatsgewalten und landeskirchlichen Körper, die in ihrem Rechte
durch das Papstthum sich gekränkt erachteten. Gleichzeitig aber auch forderte
die Ueberspannung der päpstlichen Theorien zu theoretischem Widerspruche
heraus. Ich habe schon in anderem Zusammenhange auf die radikalen An¬
griffe aufmerksam gemacht,"*) mit denen ein paar Männer gegen die mittel¬
alterlichen Prinzipien damals vorgingen. Vor allen andern war es Mars it
von Padua, der in seinem Oetevsoi- Meis auf ganz andere als die geltenden
Grundideen die Kirche aufgebaut wissen wollte: ihm war ja Fundament und
Princip der Kirche die einzelne Gemeinde, sowohl des Clerus als der Laien,
-- ein furchtbarer Gedanke, dessen Gegensatz zum mittelalterlichen Kirchenthume
hier keiner neuen Darlegung bedarf. Aber auf einen Punkt möchte ich hier
doch noch besonders hinweisen, der unsere heutige Frage näher angeht.
Marfil operirte auch mit dem Begriffe des Allgemeinen Conziles als des
eigentlichen Hauptes der Kirche. Er dachte sich dies Conzil, das nach seiner
Meinung die höchste Autorität in kirchlichen Dingen ausüben sollte, ganz
anders gebildet, als es die Tradition der Kirche hätte begründen können
Nicht sowohl die Gesammtheit der Bischöfe als eigentlicher Träger der Kirche
und als Nachfolger der Apostel, sondern vielmehr eine Zusammenfassung von
Deputirten der einzelnen kirchlichen Gemeinden, also eine Collectivrepräsentation,
der Einzelkirchen, war in seinem Entwürfe das Conzil. -- man muß sagen,
eine radikale Abweichung von den bisherigen Prinzipien schlossen diese Sätze
in sich. Selbstverständlich hatten die Conzile des päpstlichen Zeitabschnittes
derartiges nicht gekannt. Aber auch in der älteren Zeit dürste man ver¬
gebens nach Beweisen dafür suchen, daß man bei der Constituirung der
großen Synoden von der Idee der Einzelgemeinde den Ausgang genommen




") Vgl. hierüber die Erörterung, die ich vor kurzem angestellt, in den "
Skizzen zur Geschichte der Reformationszeit." S. 294 ff.
") a. a. S. 297 ff.

Kirchenregierung einen neuen Charakter an '): bisher hatte sie mit der Lei¬
tung der Welt im Großen und Ganzen sich begnügt, jetzt mischte sie in die
Details der Verwaltung sich ein, indem sie administrative und finanzielle Be¬
fugnisse überall und ununterbrochen für Rom ansprach. In dieser Gestalt
gefiel das Papstthum den einzelnen Nationen Europas weit weniger als
jenes der früheren Tage. Und nun steigerte sich im 14. Jahrhundert noch
der Ton des römischen Herrschers; jetzt war der „Stellvertreter Petri" zu
einem „Stellvertreter Gottes" auf der Erde geworden: ins ungeheuerliche
und übermenschliche wuchsen Theorie und Praxis, wie Rom sie bekannte
und übte.

Eine Reaction dagegen konnte nicht ausbleiben. Sie erfolgte von Seiten
der einzelnen Staatsgewalten und landeskirchlichen Körper, die in ihrem Rechte
durch das Papstthum sich gekränkt erachteten. Gleichzeitig aber auch forderte
die Ueberspannung der päpstlichen Theorien zu theoretischem Widerspruche
heraus. Ich habe schon in anderem Zusammenhange auf die radikalen An¬
griffe aufmerksam gemacht,"*) mit denen ein paar Männer gegen die mittel¬
alterlichen Prinzipien damals vorgingen. Vor allen andern war es Mars it
von Padua, der in seinem Oetevsoi- Meis auf ganz andere als die geltenden
Grundideen die Kirche aufgebaut wissen wollte: ihm war ja Fundament und
Princip der Kirche die einzelne Gemeinde, sowohl des Clerus als der Laien,
— ein furchtbarer Gedanke, dessen Gegensatz zum mittelalterlichen Kirchenthume
hier keiner neuen Darlegung bedarf. Aber auf einen Punkt möchte ich hier
doch noch besonders hinweisen, der unsere heutige Frage näher angeht.
Marfil operirte auch mit dem Begriffe des Allgemeinen Conziles als des
eigentlichen Hauptes der Kirche. Er dachte sich dies Conzil, das nach seiner
Meinung die höchste Autorität in kirchlichen Dingen ausüben sollte, ganz
anders gebildet, als es die Tradition der Kirche hätte begründen können
Nicht sowohl die Gesammtheit der Bischöfe als eigentlicher Träger der Kirche
und als Nachfolger der Apostel, sondern vielmehr eine Zusammenfassung von
Deputirten der einzelnen kirchlichen Gemeinden, also eine Collectivrepräsentation,
der Einzelkirchen, war in seinem Entwürfe das Conzil. — man muß sagen,
eine radikale Abweichung von den bisherigen Prinzipien schlossen diese Sätze
in sich. Selbstverständlich hatten die Conzile des päpstlichen Zeitabschnittes
derartiges nicht gekannt. Aber auch in der älteren Zeit dürste man ver¬
gebens nach Beweisen dafür suchen, daß man bei der Constituirung der
großen Synoden von der Idee der Einzelgemeinde den Ausgang genommen




") Vgl. hierüber die Erörterung, die ich vor kurzem angestellt, in den „
Skizzen zur Geschichte der Reformationszeit." S. 294 ff.
") a. a. S. 297 ff.
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[0173] Kirchenregierung einen neuen Charakter an '): bisher hatte sie mit der Lei¬ tung der Welt im Großen und Ganzen sich begnügt, jetzt mischte sie in die Details der Verwaltung sich ein, indem sie administrative und finanzielle Be¬ fugnisse überall und ununterbrochen für Rom ansprach. In dieser Gestalt gefiel das Papstthum den einzelnen Nationen Europas weit weniger als jenes der früheren Tage. Und nun steigerte sich im 14. Jahrhundert noch der Ton des römischen Herrschers; jetzt war der „Stellvertreter Petri" zu einem „Stellvertreter Gottes" auf der Erde geworden: ins ungeheuerliche und übermenschliche wuchsen Theorie und Praxis, wie Rom sie bekannte und übte. Eine Reaction dagegen konnte nicht ausbleiben. Sie erfolgte von Seiten der einzelnen Staatsgewalten und landeskirchlichen Körper, die in ihrem Rechte durch das Papstthum sich gekränkt erachteten. Gleichzeitig aber auch forderte die Ueberspannung der päpstlichen Theorien zu theoretischem Widerspruche heraus. Ich habe schon in anderem Zusammenhange auf die radikalen An¬ griffe aufmerksam gemacht,"*) mit denen ein paar Männer gegen die mittel¬ alterlichen Prinzipien damals vorgingen. Vor allen andern war es Mars it von Padua, der in seinem Oetevsoi- Meis auf ganz andere als die geltenden Grundideen die Kirche aufgebaut wissen wollte: ihm war ja Fundament und Princip der Kirche die einzelne Gemeinde, sowohl des Clerus als der Laien, — ein furchtbarer Gedanke, dessen Gegensatz zum mittelalterlichen Kirchenthume hier keiner neuen Darlegung bedarf. Aber auf einen Punkt möchte ich hier doch noch besonders hinweisen, der unsere heutige Frage näher angeht. Marfil operirte auch mit dem Begriffe des Allgemeinen Conziles als des eigentlichen Hauptes der Kirche. Er dachte sich dies Conzil, das nach seiner Meinung die höchste Autorität in kirchlichen Dingen ausüben sollte, ganz anders gebildet, als es die Tradition der Kirche hätte begründen können Nicht sowohl die Gesammtheit der Bischöfe als eigentlicher Träger der Kirche und als Nachfolger der Apostel, sondern vielmehr eine Zusammenfassung von Deputirten der einzelnen kirchlichen Gemeinden, also eine Collectivrepräsentation, der Einzelkirchen, war in seinem Entwürfe das Conzil. — man muß sagen, eine radikale Abweichung von den bisherigen Prinzipien schlossen diese Sätze in sich. Selbstverständlich hatten die Conzile des päpstlichen Zeitabschnittes derartiges nicht gekannt. Aber auch in der älteren Zeit dürste man ver¬ gebens nach Beweisen dafür suchen, daß man bei der Constituirung der großen Synoden von der Idee der Einzelgemeinde den Ausgang genommen ") Vgl. hierüber die Erörterung, die ich vor kurzem angestellt, in den „ Skizzen zur Geschichte der Reformationszeit." S. 294 ff. ") a. a. S. 297 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/173>, abgerufen am 25.12.2024.