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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Allein trotz der aufs Aeußerste gestiegenen Anforderungen an seine Leistungs¬
fähigkeit ermüdet dieser Verein nicht, sein Institut immer mehr zu vervoll¬
kommnen. So hat er jüngst an die Verleger die Bitte gerichtet, das Asyl
mit guten Schriften zu versorgen.

Zu den bestehenden Vereinen ist neuerdings ein solcher für Volksbäder
getreten. Er hat das Verdienst, eins der unerläßlichsten Mittel der Volks¬
gesundheitspflege auch dem Gebrauch des Unbemittelten zugänglich gemacht
zu haben. Mit rühmenswerther Unermüdlichkeit fährt der Letteverein fort,
das beschränkte Arbeitsfeld des weiblichen Geschlechts zu erweitern. Er hat
vor Kurzem eine eigene typographische Anstalt errichtet, in welcher Mädchen
zu Setzerinnen ausgebildet werden. Damit ist zugleich ein Mittel gewonnen,
die Gefahr der Setzerstrikes, wenn die Herren "von der Kunst" jemals wieder
Gefallen an denselben finden sollten, bedeutend abzuschwächen.

Auch für die geistige Nahrung der Massen wird mehr und mehr Sorge
getragen. Oeffentlicher Vorträge giebt es die Hülle und Fülle; ob sie immer
im richtigen Geiste gehalten sind, ist freilich eine andere Frage. Das Interesse
an der religiösen Bewegung der Zeit sucht der "Unionsverein" in einem
Cyklus von Vorträgen zu beleben. Auf die Elite des Publikums sind die
gestern in der Singakademie begonnenen Vorlesungen der wissenschaftlichen
Gesellschaft, denen auch der Hof anzuwohnen pflegt, berechnet. Obendrein
wird in der Kürze Herr Ludwig Büchner, der Mann von "Kraft und Stoff",
erscheinen, um uns zum alleinseligmachenden Materialismus zu bekehren.
Man sieht, die Hauptstadt wird schwerlich an geistiger Atrophie sterben.
Leider haftet nur an ihrem Geistesleben noch immer der böse Makel des Ver¬
falls der Universität. Denn wenn sich auch die anfänglich gehegte Befürch¬
tung, daß die Frequenz im laufenden Semester noch unter die des letzten
Sommers hinabsinken werde, nicht erwahrt hat, so ist doch die geringe Zu¬
nahme gegenüber Leipzigs kolossaler Ziffer durchaus kein Trost. Die Unter¬
lassungssünden der Muster'schen Verwaltung rächen sich am schwersten, nach¬
dem der Schuldige längst sein otium eum äiguit^es führt. Zum gegenwär¬
tigen Kultusminister aber wird man die Zuversicht hegen dürfen, daß keine
Anstrengung gescheut wird, in der Entwicklung der Anstalt, welche sich noch
vor kaum einem Jahrzehnt stolz die erste Hochschule Deutschlands nennen
durfte, das Versäumte endlich wieder gut zu machen. Möchte der Höhepunkt
der Calamität. der Verlust Mommsen's, auch deren Ende bedeuten!

In der Pflege der Künste in Berlin ist in den letzten Jahren der Löwen¬
anteil unstreitig der Musik zugefallen. Von altbekannten Ruf sind die
Leistungen des königl. Domchors; auch der Stern'sche Gesangverein behauptet
sich auf der geachteten Stufe, welche er seit langen Jahren einnimmt. Die
Symphonieconcerte der königl. Kapelle geben den weltberühmten Aufführungen


Allein trotz der aufs Aeußerste gestiegenen Anforderungen an seine Leistungs¬
fähigkeit ermüdet dieser Verein nicht, sein Institut immer mehr zu vervoll¬
kommnen. So hat er jüngst an die Verleger die Bitte gerichtet, das Asyl
mit guten Schriften zu versorgen.

Zu den bestehenden Vereinen ist neuerdings ein solcher für Volksbäder
getreten. Er hat das Verdienst, eins der unerläßlichsten Mittel der Volks¬
gesundheitspflege auch dem Gebrauch des Unbemittelten zugänglich gemacht
zu haben. Mit rühmenswerther Unermüdlichkeit fährt der Letteverein fort,
das beschränkte Arbeitsfeld des weiblichen Geschlechts zu erweitern. Er hat
vor Kurzem eine eigene typographische Anstalt errichtet, in welcher Mädchen
zu Setzerinnen ausgebildet werden. Damit ist zugleich ein Mittel gewonnen,
die Gefahr der Setzerstrikes, wenn die Herren „von der Kunst" jemals wieder
Gefallen an denselben finden sollten, bedeutend abzuschwächen.

Auch für die geistige Nahrung der Massen wird mehr und mehr Sorge
getragen. Oeffentlicher Vorträge giebt es die Hülle und Fülle; ob sie immer
im richtigen Geiste gehalten sind, ist freilich eine andere Frage. Das Interesse
an der religiösen Bewegung der Zeit sucht der „Unionsverein" in einem
Cyklus von Vorträgen zu beleben. Auf die Elite des Publikums sind die
gestern in der Singakademie begonnenen Vorlesungen der wissenschaftlichen
Gesellschaft, denen auch der Hof anzuwohnen pflegt, berechnet. Obendrein
wird in der Kürze Herr Ludwig Büchner, der Mann von „Kraft und Stoff",
erscheinen, um uns zum alleinseligmachenden Materialismus zu bekehren.
Man sieht, die Hauptstadt wird schwerlich an geistiger Atrophie sterben.
Leider haftet nur an ihrem Geistesleben noch immer der böse Makel des Ver¬
falls der Universität. Denn wenn sich auch die anfänglich gehegte Befürch¬
tung, daß die Frequenz im laufenden Semester noch unter die des letzten
Sommers hinabsinken werde, nicht erwahrt hat, so ist doch die geringe Zu¬
nahme gegenüber Leipzigs kolossaler Ziffer durchaus kein Trost. Die Unter¬
lassungssünden der Muster'schen Verwaltung rächen sich am schwersten, nach¬
dem der Schuldige längst sein otium eum äiguit^es führt. Zum gegenwär¬
tigen Kultusminister aber wird man die Zuversicht hegen dürfen, daß keine
Anstrengung gescheut wird, in der Entwicklung der Anstalt, welche sich noch
vor kaum einem Jahrzehnt stolz die erste Hochschule Deutschlands nennen
durfte, das Versäumte endlich wieder gut zu machen. Möchte der Höhepunkt
der Calamität. der Verlust Mommsen's, auch deren Ende bedeuten!

In der Pflege der Künste in Berlin ist in den letzten Jahren der Löwen¬
anteil unstreitig der Musik zugefallen. Von altbekannten Ruf sind die
Leistungen des königl. Domchors; auch der Stern'sche Gesangverein behauptet
sich auf der geachteten Stufe, welche er seit langen Jahren einnimmt. Die
Symphonieconcerte der königl. Kapelle geben den weltberühmten Aufführungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/122>, abgerufen am 25.12.2024.