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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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des Reichstags, und wer weiß, was wir noch erlebt hätten, wenn nicht Sim-
son selbst sofort eine Berliner Candidatur entschieden abgelehnt hätte. Um
so widerlicher war das tolle Gebahren, als die Anhänger der nationallibe¬
ralen Partei in Berlin die fortschrittlichen Candidaten bisher stets unter-
stützt haben. Es ist heute nicht abzusehen, unter welchen Parteiformationen
sich die nächste Reichstagswahl im Jahre 1877 vollziehen wird, darüber aber
sollte unter den gemäßigt liberalen Männern Berlins kein Zweifel mehr
sein, daß es in Zukunft ihre Pflicht ist, der die Hauptstadt terrorisirenden
Clique Männer ihrer eigenen Wahl entgegenzustellen. Nur so wird auf eine
stärkere Wahlbetheiligung, als die diesmalige, und damit die dringend noth¬
wendige Bürgschaft gegen das Ueberwuchern der Socialdemokratie gewonnen
werden. Die sehr bedeutende Stimmenzahl, welche im sechsten Wahlbezirk
Hasenclever gegenüber Schultze-Delitzsch davongetragen, ist in Bezug auf
letztern Punkt eine ernste Warnung.

Unter dem Geräusch der Reichstagswahlbewegung sind die am vergan¬
genen Sonntag in den östlichen Provinzen Preußens vollzogenen Wahlen zu
den kirchlichen Gemeinderäthen und Gemeindevertretungen weniger, als sie
verdienen, beachtet worden. Ist gleich ein Ueberblick über das Gesammtre-
sultat noch nicht möglich, so steht doch bereits fest, daß das Muster'sche
Kirchenregiment eine unverkennbare Verurtheilung erfahren hat. Hoffen wir
nur, daß mit dieser ersten Wiederbelebung des kirchlichen Gemeindelebens der
Ausgangspunkt zu jener im Interesse der Sittlichkeit unseres Volkslebens so
dringend wünschenswerthen Versöhnung zwischen Religion und moderner
Civilisation gewonnen sei! Ein Haupthebel zu einer ersprießlichen Lösung der
socialen Frage wird immer entbehrt werden müssen, so lange diese Versöh¬
nung nicht gelungen ist. Freilich soll damit nicht das Verdienst der anderen
nach diesem Ziele gerichteten Bestrebungen verkleinert werden. Wie oft auch
die Gegner die Verläumdung wiederholen, daß man das "darbende Proleta¬
riat" mit elenden Palliativen zu täuschen suche, die wahren Freunde des
Volks werden ihre Thätigkeit darum nicht erlahmen lassen- Man betrachte
die zahlreichen Berliner Vereine zur Unterstützung der ärmeren Klassen: die
wachsenden Beschimpfungen von socialdemokratischer Seite sind ihnen
nur ein Sporn gewesen in ihrem gemeinnützigen Werke. Und wie viel
bittere Noth durch diese Vereine abgewehrt wird, das wird durch ihre perio¬
dischen statistischen Veröffentlichungen auch dem Verstocktesten klar. Durch
das Zusammenwirken besonderer Umstände haben die Anforderungen an die
Mildthätigkeit in diesem Winter eine ungewöhnliche Höhe erreicht. Die weit¬
verbreitete Geschäftslofigkeit hat gerade hier in Berlin die Zahl der Arbeit¬
suchenden, also auch der Arbeitslosen außerordentlich gesteigert. Der Asyl¬
verein für männliche Obdachlose vermag des Andrangs kaum Herr zu werden.


des Reichstags, und wer weiß, was wir noch erlebt hätten, wenn nicht Sim-
son selbst sofort eine Berliner Candidatur entschieden abgelehnt hätte. Um
so widerlicher war das tolle Gebahren, als die Anhänger der nationallibe¬
ralen Partei in Berlin die fortschrittlichen Candidaten bisher stets unter-
stützt haben. Es ist heute nicht abzusehen, unter welchen Parteiformationen
sich die nächste Reichstagswahl im Jahre 1877 vollziehen wird, darüber aber
sollte unter den gemäßigt liberalen Männern Berlins kein Zweifel mehr
sein, daß es in Zukunft ihre Pflicht ist, der die Hauptstadt terrorisirenden
Clique Männer ihrer eigenen Wahl entgegenzustellen. Nur so wird auf eine
stärkere Wahlbetheiligung, als die diesmalige, und damit die dringend noth¬
wendige Bürgschaft gegen das Ueberwuchern der Socialdemokratie gewonnen
werden. Die sehr bedeutende Stimmenzahl, welche im sechsten Wahlbezirk
Hasenclever gegenüber Schultze-Delitzsch davongetragen, ist in Bezug auf
letztern Punkt eine ernste Warnung.

Unter dem Geräusch der Reichstagswahlbewegung sind die am vergan¬
genen Sonntag in den östlichen Provinzen Preußens vollzogenen Wahlen zu
den kirchlichen Gemeinderäthen und Gemeindevertretungen weniger, als sie
verdienen, beachtet worden. Ist gleich ein Ueberblick über das Gesammtre-
sultat noch nicht möglich, so steht doch bereits fest, daß das Muster'sche
Kirchenregiment eine unverkennbare Verurtheilung erfahren hat. Hoffen wir
nur, daß mit dieser ersten Wiederbelebung des kirchlichen Gemeindelebens der
Ausgangspunkt zu jener im Interesse der Sittlichkeit unseres Volkslebens so
dringend wünschenswerthen Versöhnung zwischen Religion und moderner
Civilisation gewonnen sei! Ein Haupthebel zu einer ersprießlichen Lösung der
socialen Frage wird immer entbehrt werden müssen, so lange diese Versöh¬
nung nicht gelungen ist. Freilich soll damit nicht das Verdienst der anderen
nach diesem Ziele gerichteten Bestrebungen verkleinert werden. Wie oft auch
die Gegner die Verläumdung wiederholen, daß man das „darbende Proleta¬
riat" mit elenden Palliativen zu täuschen suche, die wahren Freunde des
Volks werden ihre Thätigkeit darum nicht erlahmen lassen- Man betrachte
die zahlreichen Berliner Vereine zur Unterstützung der ärmeren Klassen: die
wachsenden Beschimpfungen von socialdemokratischer Seite sind ihnen
nur ein Sporn gewesen in ihrem gemeinnützigen Werke. Und wie viel
bittere Noth durch diese Vereine abgewehrt wird, das wird durch ihre perio¬
dischen statistischen Veröffentlichungen auch dem Verstocktesten klar. Durch
das Zusammenwirken besonderer Umstände haben die Anforderungen an die
Mildthätigkeit in diesem Winter eine ungewöhnliche Höhe erreicht. Die weit¬
verbreitete Geschäftslofigkeit hat gerade hier in Berlin die Zahl der Arbeit¬
suchenden, also auch der Arbeitslosen außerordentlich gesteigert. Der Asyl¬
verein für männliche Obdachlose vermag des Andrangs kaum Herr zu werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/121>, abgerufen am 27.08.2024.