Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Rechtes der Agnaten aufzutreten. Aber man bedenke, wie die Rücksicht aus
den Staat und dessen fürstlichen Vertreter alle Entschließungen des Land¬
tags von 1830 bestimmte. Faßt man lediglich den Wortlaut eines unter ganz
anderen Verhältnissen abgeschlossenen Vertrags ins Auge, so thut man den
Absichten wenigstens des einen der vertragschließenden Theile Gewalt an.
Die Stabilität des Buchstabens dem nicht voraussichtlich gewesenen Entwick¬
lungsgange der Geschichte hier entgegensetzen zu wollen, ist innerlich nicht
gerechtfertigt. In öffentlichen Dingen muß die ratio der Vertragschlie¬
ßenden noch eher berücksichtigt werden als z. B. bei einem Testamente die
zu vermuthende Absicht des Testators hinsichtlich seiner unausführbar gewor¬
denen oder offenbar nur unter den zu seiner Zeit obwaltenden Umständen
gemeinten Bestimmungen. Der preußische Staat wenigstens, der zur Erfül¬
lung großer vaterländischer Zwecke die Landesverfassungen und Einrichtungen
kleiner Länder bei deren Einverleibung nicht respectiren zu brauchen glaubte,
kann sich kein sonderliches Gewissen daraus machen, im öffentlichen Interesse,
ein Pseudo-Privat-Abkommen für antastbar zu halten, welches den Fortbestand
des Kurstaates zur unbedingtesten Voraussetzung hatte. Er kann es um so
weniger, als er Mittel zur Linderung etwa hierdurch entstehender vermeint¬
licher Härten in der Hand hat.

Wie der hessische Ex-Thronfolger nach dem Tode des Kurfürsten keinen
Anspruch auf die Hofdotation wird machen können, so wird er denselben auch
nicht auf die zur Erhöhung der letzteren bestimmte Hälfte der Hausschatz-Ein¬
künfte geltend machen können, zumal es nur besondere Gründe der Vorsicht
waren, welche 1830 die Stände bewogen, die Bewilligung der als Hofdotation
verlangten 300,000 Thlr. in dieser Form eintreten zu lassen. Und die andere
Hälfte der Hausschatz-Einkünfte war ja als Chatoullegelder des Regenten
bestimmt. Mit dessen Wegfall sind die betreffenden Capitalien zu ihrer ur-
sprünglichen Natur als hessisches Staatsvermögen zurückgekehrt und haben
ein Appendix des vormals kurhessischen Staatsschatzes zu bilden, welcher
durch königlichen Erlaß v. 16. Sept. 1867 dem communalständischen Verbände
des Regierungs-Bezirks Kassel überwiesen ist und seitdem, besonders seit dem
Gesetze v. 25. März 1869, betreffend die Erweiterung der Verwendungszwecke
dieses Schatzes, die Grundlage für Hessens "Selbstverwaltung" bildet. Es
würde durch diese Behandlung des Hausschatzes auch die Lücke ausgefüllt,
welche der Staatsschatz durch die Hinziehung eines seiner Theile, des sog.
Laudemialfonds, an den preuß. Fiscus 1867 erfahren hat. Einer Einziehung
des ganzen Hausschatzes als preuß. Staatsvermögen, wie es die preuß. Regie¬
rung nach ihrer Erklärung v. 12. Febr. 1868 in Aussicht zu nehmen schien,
würde derselbe Grund entgegenstehen, welcher bei Belassung des Staatsschatzes
für Hessen durchschlagend war, nämlich die Entstehung aus Blutgeldern des


Rechtes der Agnaten aufzutreten. Aber man bedenke, wie die Rücksicht aus
den Staat und dessen fürstlichen Vertreter alle Entschließungen des Land¬
tags von 1830 bestimmte. Faßt man lediglich den Wortlaut eines unter ganz
anderen Verhältnissen abgeschlossenen Vertrags ins Auge, so thut man den
Absichten wenigstens des einen der vertragschließenden Theile Gewalt an.
Die Stabilität des Buchstabens dem nicht voraussichtlich gewesenen Entwick¬
lungsgange der Geschichte hier entgegensetzen zu wollen, ist innerlich nicht
gerechtfertigt. In öffentlichen Dingen muß die ratio der Vertragschlie¬
ßenden noch eher berücksichtigt werden als z. B. bei einem Testamente die
zu vermuthende Absicht des Testators hinsichtlich seiner unausführbar gewor¬
denen oder offenbar nur unter den zu seiner Zeit obwaltenden Umständen
gemeinten Bestimmungen. Der preußische Staat wenigstens, der zur Erfül¬
lung großer vaterländischer Zwecke die Landesverfassungen und Einrichtungen
kleiner Länder bei deren Einverleibung nicht respectiren zu brauchen glaubte,
kann sich kein sonderliches Gewissen daraus machen, im öffentlichen Interesse,
ein Pseudo-Privat-Abkommen für antastbar zu halten, welches den Fortbestand
des Kurstaates zur unbedingtesten Voraussetzung hatte. Er kann es um so
weniger, als er Mittel zur Linderung etwa hierdurch entstehender vermeint¬
licher Härten in der Hand hat.

Wie der hessische Ex-Thronfolger nach dem Tode des Kurfürsten keinen
Anspruch auf die Hofdotation wird machen können, so wird er denselben auch
nicht auf die zur Erhöhung der letzteren bestimmte Hälfte der Hausschatz-Ein¬
künfte geltend machen können, zumal es nur besondere Gründe der Vorsicht
waren, welche 1830 die Stände bewogen, die Bewilligung der als Hofdotation
verlangten 300,000 Thlr. in dieser Form eintreten zu lassen. Und die andere
Hälfte der Hausschatz-Einkünfte war ja als Chatoullegelder des Regenten
bestimmt. Mit dessen Wegfall sind die betreffenden Capitalien zu ihrer ur-
sprünglichen Natur als hessisches Staatsvermögen zurückgekehrt und haben
ein Appendix des vormals kurhessischen Staatsschatzes zu bilden, welcher
durch königlichen Erlaß v. 16. Sept. 1867 dem communalständischen Verbände
des Regierungs-Bezirks Kassel überwiesen ist und seitdem, besonders seit dem
Gesetze v. 25. März 1869, betreffend die Erweiterung der Verwendungszwecke
dieses Schatzes, die Grundlage für Hessens „Selbstverwaltung" bildet. Es
würde durch diese Behandlung des Hausschatzes auch die Lücke ausgefüllt,
welche der Staatsschatz durch die Hinziehung eines seiner Theile, des sog.
Laudemialfonds, an den preuß. Fiscus 1867 erfahren hat. Einer Einziehung
des ganzen Hausschatzes als preuß. Staatsvermögen, wie es die preuß. Regie¬
rung nach ihrer Erklärung v. 12. Febr. 1868 in Aussicht zu nehmen schien,
würde derselbe Grund entgegenstehen, welcher bei Belassung des Staatsschatzes
für Hessen durchschlagend war, nämlich die Entstehung aus Blutgeldern des


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0501" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193304"/>
          <p xml:id="ID_1649" prev="#ID_1648"> Rechtes der Agnaten aufzutreten. Aber man bedenke, wie die Rücksicht aus<lb/>
den Staat und dessen fürstlichen Vertreter alle Entschließungen des Land¬<lb/>
tags von 1830 bestimmte. Faßt man lediglich den Wortlaut eines unter ganz<lb/>
anderen Verhältnissen abgeschlossenen Vertrags ins Auge, so thut man den<lb/>
Absichten wenigstens des einen der vertragschließenden Theile Gewalt an.<lb/>
Die Stabilität des Buchstabens dem nicht voraussichtlich gewesenen Entwick¬<lb/>
lungsgange der Geschichte hier entgegensetzen zu wollen, ist innerlich nicht<lb/>
gerechtfertigt. In öffentlichen Dingen muß die ratio der Vertragschlie¬<lb/>
ßenden noch eher berücksichtigt werden als z. B. bei einem Testamente die<lb/>
zu vermuthende Absicht des Testators hinsichtlich seiner unausführbar gewor¬<lb/>
denen oder offenbar nur unter den zu seiner Zeit obwaltenden Umständen<lb/>
gemeinten Bestimmungen. Der preußische Staat wenigstens, der zur Erfül¬<lb/>
lung großer vaterländischer Zwecke die Landesverfassungen und Einrichtungen<lb/>
kleiner Länder bei deren Einverleibung nicht respectiren zu brauchen glaubte,<lb/>
kann sich kein sonderliches Gewissen daraus machen, im öffentlichen Interesse,<lb/>
ein Pseudo-Privat-Abkommen für antastbar zu halten, welches den Fortbestand<lb/>
des Kurstaates zur unbedingtesten Voraussetzung hatte. Er kann es um so<lb/>
weniger, als er Mittel zur Linderung etwa hierdurch entstehender vermeint¬<lb/>
licher Härten in der Hand hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1650" next="#ID_1651"> Wie der hessische Ex-Thronfolger nach dem Tode des Kurfürsten keinen<lb/>
Anspruch auf die Hofdotation wird machen können, so wird er denselben auch<lb/>
nicht auf die zur Erhöhung der letzteren bestimmte Hälfte der Hausschatz-Ein¬<lb/>
künfte geltend machen können, zumal es nur besondere Gründe der Vorsicht<lb/>
waren, welche 1830 die Stände bewogen, die Bewilligung der als Hofdotation<lb/>
verlangten 300,000 Thlr. in dieser Form eintreten zu lassen. Und die andere<lb/>
Hälfte der Hausschatz-Einkünfte war ja als Chatoullegelder des Regenten<lb/>
bestimmt. Mit dessen Wegfall sind die betreffenden Capitalien zu ihrer ur-<lb/>
sprünglichen Natur als hessisches Staatsvermögen zurückgekehrt und haben<lb/>
ein Appendix des vormals kurhessischen Staatsschatzes zu bilden, welcher<lb/>
durch königlichen Erlaß v. 16. Sept. 1867 dem communalständischen Verbände<lb/>
des Regierungs-Bezirks Kassel überwiesen ist und seitdem, besonders seit dem<lb/>
Gesetze v. 25. März 1869, betreffend die Erweiterung der Verwendungszwecke<lb/>
dieses Schatzes, die Grundlage für Hessens &#x201E;Selbstverwaltung" bildet. Es<lb/>
würde durch diese Behandlung des Hausschatzes auch die Lücke ausgefüllt,<lb/>
welche der Staatsschatz durch die Hinziehung eines seiner Theile, des sog.<lb/>
Laudemialfonds, an den preuß. Fiscus 1867 erfahren hat. Einer Einziehung<lb/>
des ganzen Hausschatzes als preuß. Staatsvermögen, wie es die preuß. Regie¬<lb/>
rung nach ihrer Erklärung v. 12. Febr. 1868 in Aussicht zu nehmen schien,<lb/>
würde derselbe Grund entgegenstehen, welcher bei Belassung des Staatsschatzes<lb/>
für Hessen durchschlagend war, nämlich die Entstehung aus Blutgeldern des</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0501] Rechtes der Agnaten aufzutreten. Aber man bedenke, wie die Rücksicht aus den Staat und dessen fürstlichen Vertreter alle Entschließungen des Land¬ tags von 1830 bestimmte. Faßt man lediglich den Wortlaut eines unter ganz anderen Verhältnissen abgeschlossenen Vertrags ins Auge, so thut man den Absichten wenigstens des einen der vertragschließenden Theile Gewalt an. Die Stabilität des Buchstabens dem nicht voraussichtlich gewesenen Entwick¬ lungsgange der Geschichte hier entgegensetzen zu wollen, ist innerlich nicht gerechtfertigt. In öffentlichen Dingen muß die ratio der Vertragschlie¬ ßenden noch eher berücksichtigt werden als z. B. bei einem Testamente die zu vermuthende Absicht des Testators hinsichtlich seiner unausführbar gewor¬ denen oder offenbar nur unter den zu seiner Zeit obwaltenden Umständen gemeinten Bestimmungen. Der preußische Staat wenigstens, der zur Erfül¬ lung großer vaterländischer Zwecke die Landesverfassungen und Einrichtungen kleiner Länder bei deren Einverleibung nicht respectiren zu brauchen glaubte, kann sich kein sonderliches Gewissen daraus machen, im öffentlichen Interesse, ein Pseudo-Privat-Abkommen für antastbar zu halten, welches den Fortbestand des Kurstaates zur unbedingtesten Voraussetzung hatte. Er kann es um so weniger, als er Mittel zur Linderung etwa hierdurch entstehender vermeint¬ licher Härten in der Hand hat. Wie der hessische Ex-Thronfolger nach dem Tode des Kurfürsten keinen Anspruch auf die Hofdotation wird machen können, so wird er denselben auch nicht auf die zur Erhöhung der letzteren bestimmte Hälfte der Hausschatz-Ein¬ künfte geltend machen können, zumal es nur besondere Gründe der Vorsicht waren, welche 1830 die Stände bewogen, die Bewilligung der als Hofdotation verlangten 300,000 Thlr. in dieser Form eintreten zu lassen. Und die andere Hälfte der Hausschatz-Einkünfte war ja als Chatoullegelder des Regenten bestimmt. Mit dessen Wegfall sind die betreffenden Capitalien zu ihrer ur- sprünglichen Natur als hessisches Staatsvermögen zurückgekehrt und haben ein Appendix des vormals kurhessischen Staatsschatzes zu bilden, welcher durch königlichen Erlaß v. 16. Sept. 1867 dem communalständischen Verbände des Regierungs-Bezirks Kassel überwiesen ist und seitdem, besonders seit dem Gesetze v. 25. März 1869, betreffend die Erweiterung der Verwendungszwecke dieses Schatzes, die Grundlage für Hessens „Selbstverwaltung" bildet. Es würde durch diese Behandlung des Hausschatzes auch die Lücke ausgefüllt, welche der Staatsschatz durch die Hinziehung eines seiner Theile, des sog. Laudemialfonds, an den preuß. Fiscus 1867 erfahren hat. Einer Einziehung des ganzen Hausschatzes als preuß. Staatsvermögen, wie es die preuß. Regie¬ rung nach ihrer Erklärung v. 12. Febr. 1868 in Aussicht zu nehmen schien, würde derselbe Grund entgegenstehen, welcher bei Belassung des Staatsschatzes für Hessen durchschlagend war, nämlich die Entstehung aus Blutgeldern des

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/501
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/501>, abgerufen am 06.02.2025.