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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Reich. Nach diesem System stellt die Bahnverwaltung es dem Güterversender
gleichsam frei, ob er selbst spediren will oder nicht. Im ersteren Falle über¬
läßt sie ihm einen Wagen, den er beliebig füllen mag; im letzteren verpackt
sie seine Waaren ihrerseits. Da das preußische Handelsministerium sich der
Ausbreitung dieses Tarifs lebhaft annimmt, so wird es wohl nicht lange dauern
bis derselbe auf der Mehrzahl der deutschen Eisenbahnen gilt.

Zunächst an Bedeutung dürfte dieser Diskussion diejenige über die
Wohnungsnoth stehen. Sie zeigte merkwürdig verschobene Standpunkte:
Faucher, der mit einer Art Anerkennung von Proudhon's "Eigenthum ist
Diebstahl" sprach, und sich mit Adolf Wagner überlegen wollte, ob unbebaut
bleibendes Grundeigenthum im Weichbilde der Städte nicht von der Commune
zu Häuserbauzwecken expropriirt werden sollte, -- und Gneist, der der Pri¬
vatunternehmung im Häuserbau das Wort redete! Aber während die El"
senacher vorigen Herbst unverrichteter Sache an der Wohnungsnoth vorbeige¬
gangen waren, fand der ältere Congreß durch das erfolgreiche Zusammenwir¬
ken beider Richtungen, durch Faucher's und Sax' positive Studien und Gneist's
mäßigenden Widerspruch die Lösung der Aufgabe. Sie heißt einfach: Aufge¬
bot aller modernen Transportmittel wie Pferdebahn, Locomotivbahn und
Dampfschiffahrt, um hinlänglich weit von dem bereits dicht angebauten Ringe
der Großstädte und doch noch erreichbar zu täglichem Verkehr mit ihnen neue
Kleinstädte, für den Ueberschuß der Großstadtbevölkerung herstellen zu können.
Ausführen kann und wird das die dazu allmählig erzogene Privatspeculation;
an der Gesetzgebung und der Gemeindeverwaltung ist es nur, ihr hierbei
im Wege stehende Hindernisse rechtlicher und steuerlicher Art zu entfernen.

Ueber die Armen-Arbeitshäuser war der Danziger Armenpfleger
Rickert sicherlich ein sehr geeigneter Berichterstatter. Aber er war gleichwohl
zu einem einseitigen Resultat gekommen, und wieder fiel dem Präsidenten des
Gegeneongresses, Gneist, die dankbare Aufgabe zu, den bestellten Referenten
mäßigend einzuschränken. Wenn Rickert sich nicht blos auf flüchtigem Besuch
in Elberfeld, sondern auch in unsern sächsischen Armenbezirken zwischen Leipzig
und Dresden umgesehen hätte, so würde er vielleicht Anlaß erhalten haben,
von der Verwendbarkeit der Zwangsarbeitshäuser im heutigen Deutschland
bescheidener zu denken und das Heilmittel für progressiven Pauperismus nicht
in einer äußern Anstalt zu suchen, sondern in einer erweiterten und vertieften
Hingebung wohlsituirter Nachbarn an die wirthschaftlichen Erziehungsbedürf¬
tigkeit der Armen. Da der Beschluß des Congresses in Rickert's Sinn aus¬
fiel, vermögen wir ihm nicht zu billigen. Das Armenarbeitshaus kann im
einzelnen Falle eine technische Nothwendigkeit sein; gerade wie ein gemein¬
schaftlicher Gefängnißraum einmal auch da, wo sonst die Einzelhaft principiell
herrscht. Aber indem der Congreß diesen gelegentlichen Nothbehelf allgemein


Reich. Nach diesem System stellt die Bahnverwaltung es dem Güterversender
gleichsam frei, ob er selbst spediren will oder nicht. Im ersteren Falle über¬
läßt sie ihm einen Wagen, den er beliebig füllen mag; im letzteren verpackt
sie seine Waaren ihrerseits. Da das preußische Handelsministerium sich der
Ausbreitung dieses Tarifs lebhaft annimmt, so wird es wohl nicht lange dauern
bis derselbe auf der Mehrzahl der deutschen Eisenbahnen gilt.

Zunächst an Bedeutung dürfte dieser Diskussion diejenige über die
Wohnungsnoth stehen. Sie zeigte merkwürdig verschobene Standpunkte:
Faucher, der mit einer Art Anerkennung von Proudhon's „Eigenthum ist
Diebstahl" sprach, und sich mit Adolf Wagner überlegen wollte, ob unbebaut
bleibendes Grundeigenthum im Weichbilde der Städte nicht von der Commune
zu Häuserbauzwecken expropriirt werden sollte, — und Gneist, der der Pri¬
vatunternehmung im Häuserbau das Wort redete! Aber während die El«
senacher vorigen Herbst unverrichteter Sache an der Wohnungsnoth vorbeige¬
gangen waren, fand der ältere Congreß durch das erfolgreiche Zusammenwir¬
ken beider Richtungen, durch Faucher's und Sax' positive Studien und Gneist's
mäßigenden Widerspruch die Lösung der Aufgabe. Sie heißt einfach: Aufge¬
bot aller modernen Transportmittel wie Pferdebahn, Locomotivbahn und
Dampfschiffahrt, um hinlänglich weit von dem bereits dicht angebauten Ringe
der Großstädte und doch noch erreichbar zu täglichem Verkehr mit ihnen neue
Kleinstädte, für den Ueberschuß der Großstadtbevölkerung herstellen zu können.
Ausführen kann und wird das die dazu allmählig erzogene Privatspeculation;
an der Gesetzgebung und der Gemeindeverwaltung ist es nur, ihr hierbei
im Wege stehende Hindernisse rechtlicher und steuerlicher Art zu entfernen.

Ueber die Armen-Arbeitshäuser war der Danziger Armenpfleger
Rickert sicherlich ein sehr geeigneter Berichterstatter. Aber er war gleichwohl
zu einem einseitigen Resultat gekommen, und wieder fiel dem Präsidenten des
Gegeneongresses, Gneist, die dankbare Aufgabe zu, den bestellten Referenten
mäßigend einzuschränken. Wenn Rickert sich nicht blos auf flüchtigem Besuch
in Elberfeld, sondern auch in unsern sächsischen Armenbezirken zwischen Leipzig
und Dresden umgesehen hätte, so würde er vielleicht Anlaß erhalten haben,
von der Verwendbarkeit der Zwangsarbeitshäuser im heutigen Deutschland
bescheidener zu denken und das Heilmittel für progressiven Pauperismus nicht
in einer äußern Anstalt zu suchen, sondern in einer erweiterten und vertieften
Hingebung wohlsituirter Nachbarn an die wirthschaftlichen Erziehungsbedürf¬
tigkeit der Armen. Da der Beschluß des Congresses in Rickert's Sinn aus¬
fiel, vermögen wir ihm nicht zu billigen. Das Armenarbeitshaus kann im
einzelnen Falle eine technische Nothwendigkeit sein; gerade wie ein gemein¬
schaftlicher Gefängnißraum einmal auch da, wo sonst die Einzelhaft principiell
herrscht. Aber indem der Congreß diesen gelegentlichen Nothbehelf allgemein


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[0482] Reich. Nach diesem System stellt die Bahnverwaltung es dem Güterversender gleichsam frei, ob er selbst spediren will oder nicht. Im ersteren Falle über¬ läßt sie ihm einen Wagen, den er beliebig füllen mag; im letzteren verpackt sie seine Waaren ihrerseits. Da das preußische Handelsministerium sich der Ausbreitung dieses Tarifs lebhaft annimmt, so wird es wohl nicht lange dauern bis derselbe auf der Mehrzahl der deutschen Eisenbahnen gilt. Zunächst an Bedeutung dürfte dieser Diskussion diejenige über die Wohnungsnoth stehen. Sie zeigte merkwürdig verschobene Standpunkte: Faucher, der mit einer Art Anerkennung von Proudhon's „Eigenthum ist Diebstahl" sprach, und sich mit Adolf Wagner überlegen wollte, ob unbebaut bleibendes Grundeigenthum im Weichbilde der Städte nicht von der Commune zu Häuserbauzwecken expropriirt werden sollte, — und Gneist, der der Pri¬ vatunternehmung im Häuserbau das Wort redete! Aber während die El« senacher vorigen Herbst unverrichteter Sache an der Wohnungsnoth vorbeige¬ gangen waren, fand der ältere Congreß durch das erfolgreiche Zusammenwir¬ ken beider Richtungen, durch Faucher's und Sax' positive Studien und Gneist's mäßigenden Widerspruch die Lösung der Aufgabe. Sie heißt einfach: Aufge¬ bot aller modernen Transportmittel wie Pferdebahn, Locomotivbahn und Dampfschiffahrt, um hinlänglich weit von dem bereits dicht angebauten Ringe der Großstädte und doch noch erreichbar zu täglichem Verkehr mit ihnen neue Kleinstädte, für den Ueberschuß der Großstadtbevölkerung herstellen zu können. Ausführen kann und wird das die dazu allmählig erzogene Privatspeculation; an der Gesetzgebung und der Gemeindeverwaltung ist es nur, ihr hierbei im Wege stehende Hindernisse rechtlicher und steuerlicher Art zu entfernen. Ueber die Armen-Arbeitshäuser war der Danziger Armenpfleger Rickert sicherlich ein sehr geeigneter Berichterstatter. Aber er war gleichwohl zu einem einseitigen Resultat gekommen, und wieder fiel dem Präsidenten des Gegeneongresses, Gneist, die dankbare Aufgabe zu, den bestellten Referenten mäßigend einzuschränken. Wenn Rickert sich nicht blos auf flüchtigem Besuch in Elberfeld, sondern auch in unsern sächsischen Armenbezirken zwischen Leipzig und Dresden umgesehen hätte, so würde er vielleicht Anlaß erhalten haben, von der Verwendbarkeit der Zwangsarbeitshäuser im heutigen Deutschland bescheidener zu denken und das Heilmittel für progressiven Pauperismus nicht in einer äußern Anstalt zu suchen, sondern in einer erweiterten und vertieften Hingebung wohlsituirter Nachbarn an die wirthschaftlichen Erziehungsbedürf¬ tigkeit der Armen. Da der Beschluß des Congresses in Rickert's Sinn aus¬ fiel, vermögen wir ihm nicht zu billigen. Das Armenarbeitshaus kann im einzelnen Falle eine technische Nothwendigkeit sein; gerade wie ein gemein¬ schaftlicher Gefängnißraum einmal auch da, wo sonst die Einzelhaft principiell herrscht. Aber indem der Congreß diesen gelegentlichen Nothbehelf allgemein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/482>, abgerufen am 06.02.2025.