Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.Der erste Akt zeigt uns die Giebichungen, ein fürstliches Heldengeschlecht, Wenn hier die Frage sich hat vernehmen lassen, welche Theilnahme ein Held Grenzboten III. 1873. 69
Der erste Akt zeigt uns die Giebichungen, ein fürstliches Heldengeschlecht, Wenn hier die Frage sich hat vernehmen lassen, welche Theilnahme ein Held Grenzboten III. 1873. 69
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Der erste Akt zeigt uns die Giebichungen, ein fürstliches Heldengeschlecht,
mit ihrem König Günther, seiner Schwester Gutrune und seinem Halbbruder
Hagen- Die Mutter der fürstlichen Geschwister war Grimhilde, jenes Weib,
das Alberich sich einst durch Gold dienstbar gemacht. Alberichs und Grim-
hildens Sohn ist Hagen, das treue Werkzeug seines Vaters. Als solches
reizt er Günther zum Verlangen nach Brünnhildens Besitz, deren Schönheit
im flammenumgebenen Schlaf er schildert. Er zeigt Günther die Möglichkeit,
durch Siegfried in den Besitz der Jungfrau zu gelangen, und zugleich die
Möglichkeit, Siegfried durch Gutrune zu fesseln, wenn diese dem Helden einen
Liebestrank reicht, den Hagen besitzt. Nun erscheint Siegfried auf seiner Fahrt
bei den Giebichungen, Kampf oder Gastfreundschaft heischend. Die letztere wird
ihm freudig gewährt. Gutrune reicht ihm den Liebestrank, der zugleich Ver¬
gessenheitstrank ist. Nun ist er bereit, Brünnhilden für Günther zu gewinnen,
wenn dieser ihn mit Gutrune lohnt.
Wenn hier die Frage sich hat vernehmen lassen, welche Theilnahme ein Held
einflößen könne, der nicht im Besitz seiner Willensfreiheit ist und nicht ein¬
mal das Bewußtsein seines Lebenszusammenhanges hat, so können wir diesen
Anstoß an dem Vergessenheitstrank nicht nehmen. Es kommt alle Tage vor,
selbst unter dem Einfluß unserer so vieles steigernden und so vieles abschwä¬
chenden Bildung, daß eine Leidenschaft im Innern des Menschen aufbrennt,
die ihn seiner Freiheit und selbst seiner Sinne beraubt. Wie oft sagen wir:
der ist nicht bei Sinnen. Die Leidenschaft ist dieses Doppelwesen: der Sproß
unseres innersten Selbst und zugleich diesem Selbst fremd, das geistige Ge-
füge desselben durchbrechend und zerbrechend. Freilich regt sich in der Leiden¬
schaft immer, wenn auch leise, die Stimme des Gewissens, das ist unseres
wahren Selbst, welches sich furchtbar richtet, wenn der Rausch ausgetobt hat,
um seiner unkräftigen Abwehr, um seiner Ohnmacht willen. Der Vergesfen-
heitstrank, diese uralt mythische Vorstellung, hält sich an das dem wahren
Selbst entfremdete Element der Leidenschaft. Den Zusammenhang hebt auch
diese Vorstellung wieder hervor; indem sie den von der Herrschaft des Trankes
Befreiten niemals von den Folgen der unter derselben verübten Thaten be¬
freit. In einer reinen, aber jugendlich glühenden Natur, die unter der
Macht vereinzelter großer Eindrücke steht, gleicht diese Macht einem Zauber¬
trank, weil sie für eine Zeit das Bewußtsein alles übrigen Lebens auslöscht.
Wenn dieses von Schlummerkraft befangene Bewußtsein wieder erwacht, dann
ist die Reaction so heftig, die Trauer und der Schmerz um die unbegreifliche
Entfremdung von sich selbst so groß, daß sie Zeugniß ablegen für den in
der Schuld eingeschlummerten, aber nicht verletzten edlen Zug der Seele.
Solche Zustände jugendlicher Zeitalter der Völkerentwicklung führen zu my¬
thischen Vorstellungen, wie die von Zauber- und Vergessenheitstränken, und
Grenzboten III. 1873. 69
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