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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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hüllt waren, haben sich geöffnet, und Orte, wo der europäische Reisende selbst
im strengsten Jncognito nur mit Lebensgefahr sich bewegen konnte, sind nicht
nur frei und offen, sondern werden sogar von Christen regiert und verwaltet.

In Taschkend, Chodschend und Samarcand sind Clubhäuser und Kirchen
eröffnet worden; in erstgenannter Stadt erscheint sogar eine Zeitung und in
die melancholisch düsteren Tone des Muezzin (des mohammedanischen Gebetaus¬
rufers) mischt sich nun das muntere Geläute der griechischen Kirchenglocken und
gellt fürchterlicher in die Ohren der Rechtgläubigen, als der Donner der ver¬
heerenden Kanonen. In den Straßen Bocharas bewegt sich nun der Pope,
Soldat und Kaufmann mit dem stolzen Blicke des Eroberers und in dem
ehemals prachtvollen Paläste Timur's, wo sogar der stolze König Kastiliens
um Freundschaft bettelte und wo die türkische Nachkommenschaft am grünen
Stein als am Piedestal des Thrones Timur's mit religiöser Pietät sich die
Stirne rieb, dort in denselben Räumen ist nun ein russisches Lazarett) und
Proviantmagazin angebracht."

Während die "Geschichte Bocharas" wesentlich sich mit der Vergangenheit
beschäftigt, führt uns das zweite Werk Vambery's "Centralasien und die eng¬
lisch-russische Grenzfrage" in die frische Gegenwart, wobei bedeutsame Blicke
in die Zukunft geworfen werden. Hier ist ein breites Feld für politische
Speculationen gegeben und Vambery nutzt es aus. Vambery ist keineswegs
abgeneigt an ein Vordringen der Russen nach Indien zu glauben oder wenig¬
stens ernstliche Störungen anzunehmen, welche die Russen dort unter den Ein¬
geborenen anzetteln können. Wie aber stellen sich in der That die Absichten
Rußlands auf Indien?

Der russische Geolog P. v. Tschichatschew, bekannt durch seine asiatischen
Reisen, hat vor vier Jahren diese Angelegenheit einmal im Rachen des Lö¬
wen, in der britischen Naturforscherversammlung zu Ereter besprochen. Er
war der Ansicht, daß der so oft besprochene und vorhergesagte Zusammenstoß
von Russen und Engländern in Innerasien wegen der physischen Beschaffen¬
heit der Gegenden, welche ihm zum Schauplatz dienen müßten, als reines
Hirngespinnst zu betrachten sei. Wenn die russische Armee von der Oruslinie
nach Süden und Osten vordringen wolle, müsse sie nicht weniger als drei Mo¬
nate in schneebedeckten wüsten Gebirgszügen zubringen, ehe sie ihre erfrorenen
Füße auf englisches Gebiet setzen könne. Es würde sich um eine Expedition
wie jene des ersten Napoleon nach Rußland handeln. Indessen diese An¬
sicht ist ein völlig überwundener Standpunkt, wenn man auch heute noch
sehr oft in der englischen wie deutschen Presse wiederholen hört: der Hindu¬
kusch mit seinen schwer zugängigen Pässen bilde Indiens beste Schutzmauer
gegen Rußland. Es wird den Russen gar nicht einfallen, den Stier bei den
Hörnern anzupacken, falls sie auf Indien marschiren wollen.


hüllt waren, haben sich geöffnet, und Orte, wo der europäische Reisende selbst
im strengsten Jncognito nur mit Lebensgefahr sich bewegen konnte, sind nicht
nur frei und offen, sondern werden sogar von Christen regiert und verwaltet.

In Taschkend, Chodschend und Samarcand sind Clubhäuser und Kirchen
eröffnet worden; in erstgenannter Stadt erscheint sogar eine Zeitung und in
die melancholisch düsteren Tone des Muezzin (des mohammedanischen Gebetaus¬
rufers) mischt sich nun das muntere Geläute der griechischen Kirchenglocken und
gellt fürchterlicher in die Ohren der Rechtgläubigen, als der Donner der ver¬
heerenden Kanonen. In den Straßen Bocharas bewegt sich nun der Pope,
Soldat und Kaufmann mit dem stolzen Blicke des Eroberers und in dem
ehemals prachtvollen Paläste Timur's, wo sogar der stolze König Kastiliens
um Freundschaft bettelte und wo die türkische Nachkommenschaft am grünen
Stein als am Piedestal des Thrones Timur's mit religiöser Pietät sich die
Stirne rieb, dort in denselben Räumen ist nun ein russisches Lazarett) und
Proviantmagazin angebracht."

Während die „Geschichte Bocharas" wesentlich sich mit der Vergangenheit
beschäftigt, führt uns das zweite Werk Vambery's „Centralasien und die eng¬
lisch-russische Grenzfrage" in die frische Gegenwart, wobei bedeutsame Blicke
in die Zukunft geworfen werden. Hier ist ein breites Feld für politische
Speculationen gegeben und Vambery nutzt es aus. Vambery ist keineswegs
abgeneigt an ein Vordringen der Russen nach Indien zu glauben oder wenig¬
stens ernstliche Störungen anzunehmen, welche die Russen dort unter den Ein¬
geborenen anzetteln können. Wie aber stellen sich in der That die Absichten
Rußlands auf Indien?

Der russische Geolog P. v. Tschichatschew, bekannt durch seine asiatischen
Reisen, hat vor vier Jahren diese Angelegenheit einmal im Rachen des Lö¬
wen, in der britischen Naturforscherversammlung zu Ereter besprochen. Er
war der Ansicht, daß der so oft besprochene und vorhergesagte Zusammenstoß
von Russen und Engländern in Innerasien wegen der physischen Beschaffen¬
heit der Gegenden, welche ihm zum Schauplatz dienen müßten, als reines
Hirngespinnst zu betrachten sei. Wenn die russische Armee von der Oruslinie
nach Süden und Osten vordringen wolle, müsse sie nicht weniger als drei Mo¬
nate in schneebedeckten wüsten Gebirgszügen zubringen, ehe sie ihre erfrorenen
Füße auf englisches Gebiet setzen könne. Es würde sich um eine Expedition
wie jene des ersten Napoleon nach Rußland handeln. Indessen diese An¬
sicht ist ein völlig überwundener Standpunkt, wenn man auch heute noch
sehr oft in der englischen wie deutschen Presse wiederholen hört: der Hindu¬
kusch mit seinen schwer zugängigen Pässen bilde Indiens beste Schutzmauer
gegen Rußland. Es wird den Russen gar nicht einfallen, den Stier bei den
Hörnern anzupacken, falls sie auf Indien marschiren wollen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/414>, abgerufen am 06.02.2025.