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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Wesen sei. Denn mit der vielgerühmten hohen Ziffer des Lesens und Schrei¬
bens bei der jährlichen Aushebung u. tgi. in. ist es allein freilich nicht ge¬
than. Weder leistet die Volksschule durchschnittlich so viel als sie nach dem
Programm auf dem Papier leisten sollte, noch ist es mit der bloßen, wenn
auch noch so tüchtigen Elementarbildung abgethan, vielmehr bedarf dieselbe
mannigfacher Ergänzung, Fortsetzung und Weiterführung.

Und gerade jetzt mahnen zwei gefahrdrohende Erscheinungen der Gegen¬
wart auf das Ernstlichste an eine gründliche Pflege und Förderung unserer
Volksbildung. Sozialismus und Ultramontanismus speculiren jeder in seiner
Art auf die Dummheit der Massen. Gegen den einen wie gegen den an¬
deren giebt es nur eine nachhaltige, wirksame und sichere Waffe, die Zer¬
störung dieser Dummheit, als des Fruchtbodens, worin die Giftkeime soziali¬
stischer und ultramontaner Volksverführung nur zu üppig gedeihen, die
Heranbildung möglichst aller Gesellschaftsklassen zu verständigem Denken,
ihre Befreiung von jeder Art von Aberglauben, ebensowohl dem, der
das ewige Heil von dem blinden Gehorsam gegen einen Priester ab¬
hängig macht, wie dem, der das irdische Wohlbefinden von einer ebenso
blinden Befolgung unverstandener Lehren sozialistischer Freiheitsapostel und
Agitatoren erwartet.

"Die Freiheitsfrage" -- diesen richtigen und wichtigen Gedanken sprach die
Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung sogleich in Hrem ersten Auf¬
ruf aus -- "die Freiheitsfrage ist zu einer Frage der Bildung des Volkes'
besonders der Massen geworden." Die vielen und namhaften Erweiterungen
der Freiheitssphäre jedes Einzelnen, welche unsere neueste Gesetzgebung, insbe¬
sondere die Bundes- und Reichsgesetzgebung auf dem wirthschaftlichen Gebiete
ins Leben gerufen hat und die sie nicht rückgängig machen kann -- sie kön¬
nen wahrhaft nutzbringend für das Ganze und für den Einzelnen, ja auch
nur unschädlich für Beide lediglich durch einen verständigen Gebrauch ge¬
macht werden. Ein socher aber läßt sich weder durch Gesetze decretiren noch
durch Verwaltungsacte herbeiführen, er kann nur die Wirkung richtiger Ein¬
sicht oder mehr noch einer klaren oder festen Willensrichtung des Einzelnen
sein.

Eine solche Einsicht aber und zumal eine solche feste Willensrich¬
tung ist nur die Frucht tüchtiger Bildung. Der gebildete, nachdenkende, von
all seinem Thun und dessen Folgen sich Rechenschaft gebende Arbeiter wird
die ihm gebotene Gewerbefreiheit nicht dazu mißbrauchen, um ohne die nöthi¬
gen Vorkenntnisse und Vorbedingungen desselben ein Gewerbe anzufangen,
mit dem er eben aus Mangel dieser bald Schiffbruch leiden und auch Andere
in seinen Ruin verwickeln möchte. Er wird sich hüten, durch vorschnelles,
leichtsinniges Heirathen nicht blos sich, sondern eine Familie vielleicht in Noth


Wesen sei. Denn mit der vielgerühmten hohen Ziffer des Lesens und Schrei¬
bens bei der jährlichen Aushebung u. tgi. in. ist es allein freilich nicht ge¬
than. Weder leistet die Volksschule durchschnittlich so viel als sie nach dem
Programm auf dem Papier leisten sollte, noch ist es mit der bloßen, wenn
auch noch so tüchtigen Elementarbildung abgethan, vielmehr bedarf dieselbe
mannigfacher Ergänzung, Fortsetzung und Weiterführung.

Und gerade jetzt mahnen zwei gefahrdrohende Erscheinungen der Gegen¬
wart auf das Ernstlichste an eine gründliche Pflege und Förderung unserer
Volksbildung. Sozialismus und Ultramontanismus speculiren jeder in seiner
Art auf die Dummheit der Massen. Gegen den einen wie gegen den an¬
deren giebt es nur eine nachhaltige, wirksame und sichere Waffe, die Zer¬
störung dieser Dummheit, als des Fruchtbodens, worin die Giftkeime soziali¬
stischer und ultramontaner Volksverführung nur zu üppig gedeihen, die
Heranbildung möglichst aller Gesellschaftsklassen zu verständigem Denken,
ihre Befreiung von jeder Art von Aberglauben, ebensowohl dem, der
das ewige Heil von dem blinden Gehorsam gegen einen Priester ab¬
hängig macht, wie dem, der das irdische Wohlbefinden von einer ebenso
blinden Befolgung unverstandener Lehren sozialistischer Freiheitsapostel und
Agitatoren erwartet.

„Die Freiheitsfrage" — diesen richtigen und wichtigen Gedanken sprach die
Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung sogleich in Hrem ersten Auf¬
ruf aus — „die Freiheitsfrage ist zu einer Frage der Bildung des Volkes'
besonders der Massen geworden." Die vielen und namhaften Erweiterungen
der Freiheitssphäre jedes Einzelnen, welche unsere neueste Gesetzgebung, insbe¬
sondere die Bundes- und Reichsgesetzgebung auf dem wirthschaftlichen Gebiete
ins Leben gerufen hat und die sie nicht rückgängig machen kann — sie kön¬
nen wahrhaft nutzbringend für das Ganze und für den Einzelnen, ja auch
nur unschädlich für Beide lediglich durch einen verständigen Gebrauch ge¬
macht werden. Ein socher aber läßt sich weder durch Gesetze decretiren noch
durch Verwaltungsacte herbeiführen, er kann nur die Wirkung richtiger Ein¬
sicht oder mehr noch einer klaren oder festen Willensrichtung des Einzelnen
sein.

Eine solche Einsicht aber und zumal eine solche feste Willensrich¬
tung ist nur die Frucht tüchtiger Bildung. Der gebildete, nachdenkende, von
all seinem Thun und dessen Folgen sich Rechenschaft gebende Arbeiter wird
die ihm gebotene Gewerbefreiheit nicht dazu mißbrauchen, um ohne die nöthi¬
gen Vorkenntnisse und Vorbedingungen desselben ein Gewerbe anzufangen,
mit dem er eben aus Mangel dieser bald Schiffbruch leiden und auch Andere
in seinen Ruin verwickeln möchte. Er wird sich hüten, durch vorschnelles,
leichtsinniges Heirathen nicht blos sich, sondern eine Familie vielleicht in Noth


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[0404] Wesen sei. Denn mit der vielgerühmten hohen Ziffer des Lesens und Schrei¬ bens bei der jährlichen Aushebung u. tgi. in. ist es allein freilich nicht ge¬ than. Weder leistet die Volksschule durchschnittlich so viel als sie nach dem Programm auf dem Papier leisten sollte, noch ist es mit der bloßen, wenn auch noch so tüchtigen Elementarbildung abgethan, vielmehr bedarf dieselbe mannigfacher Ergänzung, Fortsetzung und Weiterführung. Und gerade jetzt mahnen zwei gefahrdrohende Erscheinungen der Gegen¬ wart auf das Ernstlichste an eine gründliche Pflege und Förderung unserer Volksbildung. Sozialismus und Ultramontanismus speculiren jeder in seiner Art auf die Dummheit der Massen. Gegen den einen wie gegen den an¬ deren giebt es nur eine nachhaltige, wirksame und sichere Waffe, die Zer¬ störung dieser Dummheit, als des Fruchtbodens, worin die Giftkeime soziali¬ stischer und ultramontaner Volksverführung nur zu üppig gedeihen, die Heranbildung möglichst aller Gesellschaftsklassen zu verständigem Denken, ihre Befreiung von jeder Art von Aberglauben, ebensowohl dem, der das ewige Heil von dem blinden Gehorsam gegen einen Priester ab¬ hängig macht, wie dem, der das irdische Wohlbefinden von einer ebenso blinden Befolgung unverstandener Lehren sozialistischer Freiheitsapostel und Agitatoren erwartet. „Die Freiheitsfrage" — diesen richtigen und wichtigen Gedanken sprach die Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung sogleich in Hrem ersten Auf¬ ruf aus — „die Freiheitsfrage ist zu einer Frage der Bildung des Volkes' besonders der Massen geworden." Die vielen und namhaften Erweiterungen der Freiheitssphäre jedes Einzelnen, welche unsere neueste Gesetzgebung, insbe¬ sondere die Bundes- und Reichsgesetzgebung auf dem wirthschaftlichen Gebiete ins Leben gerufen hat und die sie nicht rückgängig machen kann — sie kön¬ nen wahrhaft nutzbringend für das Ganze und für den Einzelnen, ja auch nur unschädlich für Beide lediglich durch einen verständigen Gebrauch ge¬ macht werden. Ein socher aber läßt sich weder durch Gesetze decretiren noch durch Verwaltungsacte herbeiführen, er kann nur die Wirkung richtiger Ein¬ sicht oder mehr noch einer klaren oder festen Willensrichtung des Einzelnen sein. Eine solche Einsicht aber und zumal eine solche feste Willensrich¬ tung ist nur die Frucht tüchtiger Bildung. Der gebildete, nachdenkende, von all seinem Thun und dessen Folgen sich Rechenschaft gebende Arbeiter wird die ihm gebotene Gewerbefreiheit nicht dazu mißbrauchen, um ohne die nöthi¬ gen Vorkenntnisse und Vorbedingungen desselben ein Gewerbe anzufangen, mit dem er eben aus Mangel dieser bald Schiffbruch leiden und auch Andere in seinen Ruin verwickeln möchte. Er wird sich hüten, durch vorschnelles, leichtsinniges Heirathen nicht blos sich, sondern eine Familie vielleicht in Noth

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/404>, abgerufen am 06.02.2025.