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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Genug, die Probe ist gemacht, daß der regere politische und nationale
Sinn, den unser Volk in dem letzten Menschenalter sich angeeignet und zu be¬
thätigen begonnen hat, dem Ernste und der Gründlichkeit seiner Bildung
keinen Abbruch gethan hat. Dahingegen hat er auf eben diese Bildung in
zweierlei Hinsicht äußerst wohlthätig, umgestaltend und befruchtend gewirkt:
er hat unseren gelehrten Studien einen minder abstracten, einen unserem Le¬
ben zugewandten Character aufgeprägt, und er hat das exclusive Vorrecht der
Bildung, welche früher eine bevorzugte Minorität des Volkes beanspruchte
und übte, zerstört, er hat sozusagen die Bildung demokratisirt, er hat gleich¬
sam die schweren Silberbarren der Wissenschaft zur handlichen Münze für den
Tagesgebrauch Aller umgeformt.

Von diesem letzteren Bestreben ist ein erfreuliches Anzeichen und eine viel¬
versprechende Frucht die vor etwa zwei Jahren gestiftete "Gesellschaft für Ver¬
breitung von Volksbildung" die unlängst in Leipzig ihre dritte ordentliche
Geneneralversammlung hielt.

Noch inmitten der großen Kämpfe des Jahres 1871 erschien der erste
Aufruf zur Bildung dieser Gesellschaft. Er ging aus von einer Anzahl ge-
meinnützig und patriotisch gesinnter Männer, zum größten Theil Reichs- und
Landtagsabgeordneter, also solchen, die berufsmäßig im öffentlichen Leben
thätig sind und die durch das Vertrauen des Volkes zu Wärtern desselben
sich verpflichtet glaubten, auch in andererer Weise, als blos durch ihr parla-
'mentarisches Wirken, die Interessen des Volkes zu fördern.

Daß es insgescunmmt Anhänger der liberalen und nationalen Richtung
waren, die sich an die Spitze dieses gemeinnützigen Unternehmens stellten, soll
nicht zu eitler Ueberschätzung dieser oder zu ungerechter Herabsetzung irgend
einer andern Richtung, wohl aber darum erwähnt sein, weil man von ande¬
rer Seite bisweilen ungerecht genug gewesen ist, gerade den fortschrittlichen,
vorwärts drängenden Bestrebungen in der Politik eine Verflachung unseres
Bildungslebens, eine Vereinseitigung des deutschen Geistes durch zu ausschlie߬
liche Beschäftigung mit der Tagespolitik und ihrem aufregenden Interesse zum
Vorwurf zu machen.

Das vielgehörte Wort, daß der deutsche Schulmeister einen wesentlichen
Antheil gehabt habe an den Siegen und der Unwiderstehlichkeit der deut¬
schen Waffen in den jüngsten Kämpfen, ward von den Gründern der Gesellschaft
zur Verbreitung von Volksbildung als eine Mahnung angesehen, nicht etwa
auf den geträumten Vorzügen deutscher Bildung eitel und müßig auszu¬
ruhen, vielmehr deren Mängel und Bedürfnisse nur um so mehr ins Auge
zu fassen und ihnen abzuhelfen, und so jene Bildung erst wahrhaft zu dem
zu machen, was sie bisher großentheils doch mehr in einer allzugünstigen
Schätzung namentlich von Seiten des Auslandes als in Wirklichkeit ge-


Genug, die Probe ist gemacht, daß der regere politische und nationale
Sinn, den unser Volk in dem letzten Menschenalter sich angeeignet und zu be¬
thätigen begonnen hat, dem Ernste und der Gründlichkeit seiner Bildung
keinen Abbruch gethan hat. Dahingegen hat er auf eben diese Bildung in
zweierlei Hinsicht äußerst wohlthätig, umgestaltend und befruchtend gewirkt:
er hat unseren gelehrten Studien einen minder abstracten, einen unserem Le¬
ben zugewandten Character aufgeprägt, und er hat das exclusive Vorrecht der
Bildung, welche früher eine bevorzugte Minorität des Volkes beanspruchte
und übte, zerstört, er hat sozusagen die Bildung demokratisirt, er hat gleich¬
sam die schweren Silberbarren der Wissenschaft zur handlichen Münze für den
Tagesgebrauch Aller umgeformt.

Von diesem letzteren Bestreben ist ein erfreuliches Anzeichen und eine viel¬
versprechende Frucht die vor etwa zwei Jahren gestiftete „Gesellschaft für Ver¬
breitung von Volksbildung" die unlängst in Leipzig ihre dritte ordentliche
Geneneralversammlung hielt.

Noch inmitten der großen Kämpfe des Jahres 1871 erschien der erste
Aufruf zur Bildung dieser Gesellschaft. Er ging aus von einer Anzahl ge-
meinnützig und patriotisch gesinnter Männer, zum größten Theil Reichs- und
Landtagsabgeordneter, also solchen, die berufsmäßig im öffentlichen Leben
thätig sind und die durch das Vertrauen des Volkes zu Wärtern desselben
sich verpflichtet glaubten, auch in andererer Weise, als blos durch ihr parla-
'mentarisches Wirken, die Interessen des Volkes zu fördern.

Daß es insgescunmmt Anhänger der liberalen und nationalen Richtung
waren, die sich an die Spitze dieses gemeinnützigen Unternehmens stellten, soll
nicht zu eitler Ueberschätzung dieser oder zu ungerechter Herabsetzung irgend
einer andern Richtung, wohl aber darum erwähnt sein, weil man von ande¬
rer Seite bisweilen ungerecht genug gewesen ist, gerade den fortschrittlichen,
vorwärts drängenden Bestrebungen in der Politik eine Verflachung unseres
Bildungslebens, eine Vereinseitigung des deutschen Geistes durch zu ausschlie߬
liche Beschäftigung mit der Tagespolitik und ihrem aufregenden Interesse zum
Vorwurf zu machen.

Das vielgehörte Wort, daß der deutsche Schulmeister einen wesentlichen
Antheil gehabt habe an den Siegen und der Unwiderstehlichkeit der deut¬
schen Waffen in den jüngsten Kämpfen, ward von den Gründern der Gesellschaft
zur Verbreitung von Volksbildung als eine Mahnung angesehen, nicht etwa
auf den geträumten Vorzügen deutscher Bildung eitel und müßig auszu¬
ruhen, vielmehr deren Mängel und Bedürfnisse nur um so mehr ins Auge
zu fassen und ihnen abzuhelfen, und so jene Bildung erst wahrhaft zu dem
zu machen, was sie bisher großentheils doch mehr in einer allzugünstigen
Schätzung namentlich von Seiten des Auslandes als in Wirklichkeit ge-


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[0403] Genug, die Probe ist gemacht, daß der regere politische und nationale Sinn, den unser Volk in dem letzten Menschenalter sich angeeignet und zu be¬ thätigen begonnen hat, dem Ernste und der Gründlichkeit seiner Bildung keinen Abbruch gethan hat. Dahingegen hat er auf eben diese Bildung in zweierlei Hinsicht äußerst wohlthätig, umgestaltend und befruchtend gewirkt: er hat unseren gelehrten Studien einen minder abstracten, einen unserem Le¬ ben zugewandten Character aufgeprägt, und er hat das exclusive Vorrecht der Bildung, welche früher eine bevorzugte Minorität des Volkes beanspruchte und übte, zerstört, er hat sozusagen die Bildung demokratisirt, er hat gleich¬ sam die schweren Silberbarren der Wissenschaft zur handlichen Münze für den Tagesgebrauch Aller umgeformt. Von diesem letzteren Bestreben ist ein erfreuliches Anzeichen und eine viel¬ versprechende Frucht die vor etwa zwei Jahren gestiftete „Gesellschaft für Ver¬ breitung von Volksbildung" die unlängst in Leipzig ihre dritte ordentliche Geneneralversammlung hielt. Noch inmitten der großen Kämpfe des Jahres 1871 erschien der erste Aufruf zur Bildung dieser Gesellschaft. Er ging aus von einer Anzahl ge- meinnützig und patriotisch gesinnter Männer, zum größten Theil Reichs- und Landtagsabgeordneter, also solchen, die berufsmäßig im öffentlichen Leben thätig sind und die durch das Vertrauen des Volkes zu Wärtern desselben sich verpflichtet glaubten, auch in andererer Weise, als blos durch ihr parla- 'mentarisches Wirken, die Interessen des Volkes zu fördern. Daß es insgescunmmt Anhänger der liberalen und nationalen Richtung waren, die sich an die Spitze dieses gemeinnützigen Unternehmens stellten, soll nicht zu eitler Ueberschätzung dieser oder zu ungerechter Herabsetzung irgend einer andern Richtung, wohl aber darum erwähnt sein, weil man von ande¬ rer Seite bisweilen ungerecht genug gewesen ist, gerade den fortschrittlichen, vorwärts drängenden Bestrebungen in der Politik eine Verflachung unseres Bildungslebens, eine Vereinseitigung des deutschen Geistes durch zu ausschlie߬ liche Beschäftigung mit der Tagespolitik und ihrem aufregenden Interesse zum Vorwurf zu machen. Das vielgehörte Wort, daß der deutsche Schulmeister einen wesentlichen Antheil gehabt habe an den Siegen und der Unwiderstehlichkeit der deut¬ schen Waffen in den jüngsten Kämpfen, ward von den Gründern der Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung als eine Mahnung angesehen, nicht etwa auf den geträumten Vorzügen deutscher Bildung eitel und müßig auszu¬ ruhen, vielmehr deren Mängel und Bedürfnisse nur um so mehr ins Auge zu fassen und ihnen abzuhelfen, und so jene Bildung erst wahrhaft zu dem zu machen, was sie bisher großentheils doch mehr in einer allzugünstigen Schätzung namentlich von Seiten des Auslandes als in Wirklichkeit ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/403>, abgerufen am 06.02.2025.