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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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neueste Zeit im Allgemeinen dem unserer Stereotypie gleich, worin sich am
besten der Unterschied der chinesischen und europäischen Schriftkultur ausprägt.
Die Gelehrsamkeit der Chinesen gipfelt hauptsächlich in einem allerdings er¬
staunlichen Zusammentragen und Sammeln des seit Jahrtausenden in allen
Gebieten angehäuften Stoffes. So entstanden vornehmlich umfassende Sam¬
melwerke; u. a. die von Kaiser Ma-Tuanlin veranstaltete "gründliche Unter¬
suchung der alten Denkmäler", eine Encyklopädie in 348 Heften, die nach
Abel Remusat's Ausspruch eine ganze Bibliothek ersetzt, und in späterer Zeit
die von den Kaisern Kanghi und Kaotsung - Kicmlung im 18. Jahrhundert
angeordneten Wiederabdrücke der älteren Schriftwerke, von denen das
letztere Sammelwerk 180,000, nach Anderen sogar 600,000 Hefte um¬
fassen soll.

Ein so riesiges Besitzthum an geistigen Produkten erklärt es, daß die
chinesische Bildung sich den Eroberern Chinas, den Mongolen und den Mand-
schu-Tartaren, überlegen gezeigt und letztere zur Annahme der alten chinesi¬
schen Kultur genöthigt hat, welche für das barbarische Ostasien dasjenige war,
was Griechenland und Rom dem Abendlande wurden.

Die starre Einheit des Staatslebens in China, die Geschlossenheit des
Volkes im Gegensatze zu den niedriger stehenden Barbaren und der Sprach-
character führten zu großer Uebereinstimmung in dem Gepräge aller geistigen
Produkte und machten die Negierung zur Trägerin und Leiterin des Schrift-
thums. Wichtige Bücher werden noch jetzt auf Kosten des Staates gedruckt,
und in der Pekinger Hofzeitung, deren Gründung schon 1366 stattfand,
angekündigt. Diese Zeitung (Xingtsdum) wird in einem Abdruck
nach jeder chinesischen Stadt geschickt, überall vervielfältigt und verbreitet;
sie schreibt alle Formen für den schriftlichen Verkehr mit den Behörden vor.
Alljährlich erscheint der Staatskalender, vierteljährlich ein aus 6 Theilen be¬
stehender Adreßkalender, das "rothe Buch", "Buch der Gürtelträger", welches
alle Behörden aufzählt. Das große Staatshandbuch (l'al-thing'Jo-si-klar).
welches alle Gesetze, Erläuterungen, Rituale enthält, besteht aus 1060 Folio¬
heften. Die amtliche Geschichtschreibung, welche in alter Zeit begründet und
ununterbrochen bis 1644 fortgeführt ist, hat es bis zu 3705 Heften Reichs¬
annalen gebracht, ein Quellenwerk, wie es nicht zum zweiten Male existirt.

Die Bedeutung des chinesischen Schriftthums erhellt am ehesten aus dem
Umstände, daß ein Buch in China einen Leserkreis von 600 Millionen
Menschen hat.

Von Auers her dienten als Beschreibstoffe in China Schilf (Bambus),
Gewebe oder Stein. Staatsurkunden, Verträge und Gesetze wurden noch bis
S13 v. Chr. auf ehernen Vasen verzeichnet. Auch auf Seide schrieb man.
Nach mannigfachen Versuchen gelang es Tsailin, einem Ackerbau-Beamten,


neueste Zeit im Allgemeinen dem unserer Stereotypie gleich, worin sich am
besten der Unterschied der chinesischen und europäischen Schriftkultur ausprägt.
Die Gelehrsamkeit der Chinesen gipfelt hauptsächlich in einem allerdings er¬
staunlichen Zusammentragen und Sammeln des seit Jahrtausenden in allen
Gebieten angehäuften Stoffes. So entstanden vornehmlich umfassende Sam¬
melwerke; u. a. die von Kaiser Ma-Tuanlin veranstaltete „gründliche Unter¬
suchung der alten Denkmäler", eine Encyklopädie in 348 Heften, die nach
Abel Remusat's Ausspruch eine ganze Bibliothek ersetzt, und in späterer Zeit
die von den Kaisern Kanghi und Kaotsung - Kicmlung im 18. Jahrhundert
angeordneten Wiederabdrücke der älteren Schriftwerke, von denen das
letztere Sammelwerk 180,000, nach Anderen sogar 600,000 Hefte um¬
fassen soll.

Ein so riesiges Besitzthum an geistigen Produkten erklärt es, daß die
chinesische Bildung sich den Eroberern Chinas, den Mongolen und den Mand-
schu-Tartaren, überlegen gezeigt und letztere zur Annahme der alten chinesi¬
schen Kultur genöthigt hat, welche für das barbarische Ostasien dasjenige war,
was Griechenland und Rom dem Abendlande wurden.

Die starre Einheit des Staatslebens in China, die Geschlossenheit des
Volkes im Gegensatze zu den niedriger stehenden Barbaren und der Sprach-
character führten zu großer Uebereinstimmung in dem Gepräge aller geistigen
Produkte und machten die Negierung zur Trägerin und Leiterin des Schrift-
thums. Wichtige Bücher werden noch jetzt auf Kosten des Staates gedruckt,
und in der Pekinger Hofzeitung, deren Gründung schon 1366 stattfand,
angekündigt. Diese Zeitung (Xingtsdum) wird in einem Abdruck
nach jeder chinesischen Stadt geschickt, überall vervielfältigt und verbreitet;
sie schreibt alle Formen für den schriftlichen Verkehr mit den Behörden vor.
Alljährlich erscheint der Staatskalender, vierteljährlich ein aus 6 Theilen be¬
stehender Adreßkalender, das „rothe Buch", „Buch der Gürtelträger", welches
alle Behörden aufzählt. Das große Staatshandbuch (l'al-thing'Jo-si-klar).
welches alle Gesetze, Erläuterungen, Rituale enthält, besteht aus 1060 Folio¬
heften. Die amtliche Geschichtschreibung, welche in alter Zeit begründet und
ununterbrochen bis 1644 fortgeführt ist, hat es bis zu 3705 Heften Reichs¬
annalen gebracht, ein Quellenwerk, wie es nicht zum zweiten Male existirt.

Die Bedeutung des chinesischen Schriftthums erhellt am ehesten aus dem
Umstände, daß ein Buch in China einen Leserkreis von 600 Millionen
Menschen hat.

Von Auers her dienten als Beschreibstoffe in China Schilf (Bambus),
Gewebe oder Stein. Staatsurkunden, Verträge und Gesetze wurden noch bis
S13 v. Chr. auf ehernen Vasen verzeichnet. Auch auf Seide schrieb man.
Nach mannigfachen Versuchen gelang es Tsailin, einem Ackerbau-Beamten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/378>, abgerufen am 06.02.2025.