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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Die Bestrebungen dieser Männer bewegten sich indeß vorwiegend aus dem
Gebiete theils des höheren, gelehrten Unterrichts, theils der Privaterziehung
oder der Erziehung in geschlossenen Anstalten. Auf das Volksschulwesen und
den öffentlichen Unterricht drangen ihre Wirkungen nur allmälig und mittel¬
bar ein. Doch fehlte es nicht an Männern, welche auch hier unmittelbar refor-
mirend eingriffen, weniger durch weitausgreifende systematische Umgestal¬
tungen, als indem sie beim Nächsten anfingen, äußere Hindernisse nach Kräften
beseitigten, einzelne direkt wirkende Mittel der Besserung in Bewegung setzten.

Vor allem ist hier ein Mann zu nennen, der zunächst in engem Kreise
höchst wohlthätig wirkte durch sein Beispiel, seinen Rath, sein Ansehen, dann
auch nach vielen Seiten hin fruchtbare Anstöße gab. Es war dies Herr v.
Rochow, evangelischer Domherr des Stiftes zu Halberstadt, Erbherr auf
Reckahn, ein eben so wohlwollender, edeldenkender und hochgebildeter, als wohl¬
habender und dadurch zur Verwirklichung seiner gemeinnützigen Ideen be¬
fähigter preußischer Gutsbesitzer.

Rochow ward zu seinen menschenfreundlichen Bestrebungen für Hebung
der geistigen, sittlichen und materiellen Lage des Volkes (denn er sorgte ebenso
sehr für bessere Armen- als Schulanstalten) nicht durch philosophische Specu-
lationen oder durch einen unbestimmten allgemeinen Drang hingeleitet, son¬
dern durch ganz bestimmte praktische Erfahrungen, durch welche sein warmes
Herz erregt, sein Wille zum Helfen in Bewegung gesetzt, zugleich aber auch
sein Heller praktischer Verstand auf den rechten Weg, wie zu helfen sei, ge¬
führt ward. In den furchtbaren Nothjahren 1771/2, wo eine fast allgemeine
Theuerung die Bevölkerung Deutschlands decimirte und namentlich die ärme¬
ren, ohnehin kaum ihren Lebensunterhalt sindenden Klassen an den äußersten
Rand des Elends brachte, hatte Rochow auf seinem Gute durch Vertheilung
von Getreide, durch Annahme eines Arztes zur Heilung der in Folge des
Mangels eingerissenen Krankheiten und auf jede sonstige Weise die Noth seiner
Unterthanen zu lindern gesucht. Allein Unwissenheit, Aberglaube, Vorurtheile
jeder Art hatten seine besten Bemühungen vereitelt. So ward er denn, wie
er selbst erzählt, auf die Quelle des Uebels hingeführt und sann nach, wie
diese Quelle zu verstopfen sei. Die Ergebnisse seines Nachdenkens legte er
nieder in dem "Versuch eines Schulbuchs für Kinder und Landleute", welches
zuerst 1772 erschien, außer 8--10 Nachdrucker in vier rechtmäßigen Auflagen
in mehr als 100,000 Exemplaren durch Deutschland verbreitet, auch ins Schwe¬
dische, Französische, Polnische, Dänische, Jllyrische übersetzt ward.

In der Vorrede zu diesem Schul- und Lesebuche legte Rochow die Wünsche
nieder, die er für eine Verbesserung des Volksschulwesens hegte und deren Ver¬
wirklichung er sich, so weit es bei ihm stand, zunächst in seinem eigenen Wir>
kungskreise angelegen sein ließ. Er forderte, daß nicht Handwerker oder un-


Grenzbotm 1873. lit. 34

Die Bestrebungen dieser Männer bewegten sich indeß vorwiegend aus dem
Gebiete theils des höheren, gelehrten Unterrichts, theils der Privaterziehung
oder der Erziehung in geschlossenen Anstalten. Auf das Volksschulwesen und
den öffentlichen Unterricht drangen ihre Wirkungen nur allmälig und mittel¬
bar ein. Doch fehlte es nicht an Männern, welche auch hier unmittelbar refor-
mirend eingriffen, weniger durch weitausgreifende systematische Umgestal¬
tungen, als indem sie beim Nächsten anfingen, äußere Hindernisse nach Kräften
beseitigten, einzelne direkt wirkende Mittel der Besserung in Bewegung setzten.

Vor allem ist hier ein Mann zu nennen, der zunächst in engem Kreise
höchst wohlthätig wirkte durch sein Beispiel, seinen Rath, sein Ansehen, dann
auch nach vielen Seiten hin fruchtbare Anstöße gab. Es war dies Herr v.
Rochow, evangelischer Domherr des Stiftes zu Halberstadt, Erbherr auf
Reckahn, ein eben so wohlwollender, edeldenkender und hochgebildeter, als wohl¬
habender und dadurch zur Verwirklichung seiner gemeinnützigen Ideen be¬
fähigter preußischer Gutsbesitzer.

Rochow ward zu seinen menschenfreundlichen Bestrebungen für Hebung
der geistigen, sittlichen und materiellen Lage des Volkes (denn er sorgte ebenso
sehr für bessere Armen- als Schulanstalten) nicht durch philosophische Specu-
lationen oder durch einen unbestimmten allgemeinen Drang hingeleitet, son¬
dern durch ganz bestimmte praktische Erfahrungen, durch welche sein warmes
Herz erregt, sein Wille zum Helfen in Bewegung gesetzt, zugleich aber auch
sein Heller praktischer Verstand auf den rechten Weg, wie zu helfen sei, ge¬
führt ward. In den furchtbaren Nothjahren 1771/2, wo eine fast allgemeine
Theuerung die Bevölkerung Deutschlands decimirte und namentlich die ärme¬
ren, ohnehin kaum ihren Lebensunterhalt sindenden Klassen an den äußersten
Rand des Elends brachte, hatte Rochow auf seinem Gute durch Vertheilung
von Getreide, durch Annahme eines Arztes zur Heilung der in Folge des
Mangels eingerissenen Krankheiten und auf jede sonstige Weise die Noth seiner
Unterthanen zu lindern gesucht. Allein Unwissenheit, Aberglaube, Vorurtheile
jeder Art hatten seine besten Bemühungen vereitelt. So ward er denn, wie
er selbst erzählt, auf die Quelle des Uebels hingeführt und sann nach, wie
diese Quelle zu verstopfen sei. Die Ergebnisse seines Nachdenkens legte er
nieder in dem „Versuch eines Schulbuchs für Kinder und Landleute", welches
zuerst 1772 erschien, außer 8—10 Nachdrucker in vier rechtmäßigen Auflagen
in mehr als 100,000 Exemplaren durch Deutschland verbreitet, auch ins Schwe¬
dische, Französische, Polnische, Dänische, Jllyrische übersetzt ward.

In der Vorrede zu diesem Schul- und Lesebuche legte Rochow die Wünsche
nieder, die er für eine Verbesserung des Volksschulwesens hegte und deren Ver¬
wirklichung er sich, so weit es bei ihm stand, zunächst in seinem eigenen Wir>
kungskreise angelegen sein ließ. Er forderte, daß nicht Handwerker oder un-


Grenzbotm 1873. lit. 34
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[0273] Die Bestrebungen dieser Männer bewegten sich indeß vorwiegend aus dem Gebiete theils des höheren, gelehrten Unterrichts, theils der Privaterziehung oder der Erziehung in geschlossenen Anstalten. Auf das Volksschulwesen und den öffentlichen Unterricht drangen ihre Wirkungen nur allmälig und mittel¬ bar ein. Doch fehlte es nicht an Männern, welche auch hier unmittelbar refor- mirend eingriffen, weniger durch weitausgreifende systematische Umgestal¬ tungen, als indem sie beim Nächsten anfingen, äußere Hindernisse nach Kräften beseitigten, einzelne direkt wirkende Mittel der Besserung in Bewegung setzten. Vor allem ist hier ein Mann zu nennen, der zunächst in engem Kreise höchst wohlthätig wirkte durch sein Beispiel, seinen Rath, sein Ansehen, dann auch nach vielen Seiten hin fruchtbare Anstöße gab. Es war dies Herr v. Rochow, evangelischer Domherr des Stiftes zu Halberstadt, Erbherr auf Reckahn, ein eben so wohlwollender, edeldenkender und hochgebildeter, als wohl¬ habender und dadurch zur Verwirklichung seiner gemeinnützigen Ideen be¬ fähigter preußischer Gutsbesitzer. Rochow ward zu seinen menschenfreundlichen Bestrebungen für Hebung der geistigen, sittlichen und materiellen Lage des Volkes (denn er sorgte ebenso sehr für bessere Armen- als Schulanstalten) nicht durch philosophische Specu- lationen oder durch einen unbestimmten allgemeinen Drang hingeleitet, son¬ dern durch ganz bestimmte praktische Erfahrungen, durch welche sein warmes Herz erregt, sein Wille zum Helfen in Bewegung gesetzt, zugleich aber auch sein Heller praktischer Verstand auf den rechten Weg, wie zu helfen sei, ge¬ führt ward. In den furchtbaren Nothjahren 1771/2, wo eine fast allgemeine Theuerung die Bevölkerung Deutschlands decimirte und namentlich die ärme¬ ren, ohnehin kaum ihren Lebensunterhalt sindenden Klassen an den äußersten Rand des Elends brachte, hatte Rochow auf seinem Gute durch Vertheilung von Getreide, durch Annahme eines Arztes zur Heilung der in Folge des Mangels eingerissenen Krankheiten und auf jede sonstige Weise die Noth seiner Unterthanen zu lindern gesucht. Allein Unwissenheit, Aberglaube, Vorurtheile jeder Art hatten seine besten Bemühungen vereitelt. So ward er denn, wie er selbst erzählt, auf die Quelle des Uebels hingeführt und sann nach, wie diese Quelle zu verstopfen sei. Die Ergebnisse seines Nachdenkens legte er nieder in dem „Versuch eines Schulbuchs für Kinder und Landleute", welches zuerst 1772 erschien, außer 8—10 Nachdrucker in vier rechtmäßigen Auflagen in mehr als 100,000 Exemplaren durch Deutschland verbreitet, auch ins Schwe¬ dische, Französische, Polnische, Dänische, Jllyrische übersetzt ward. In der Vorrede zu diesem Schul- und Lesebuche legte Rochow die Wünsche nieder, die er für eine Verbesserung des Volksschulwesens hegte und deren Ver¬ wirklichung er sich, so weit es bei ihm stand, zunächst in seinem eigenen Wir> kungskreise angelegen sein ließ. Er forderte, daß nicht Handwerker oder un- Grenzbotm 1873. lit. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/273>, abgerufen am 06.02.2025.