Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.Von jener Stelle ab, die Kean unnachahmlich wiedergab, wo Othello Abschied Die echte Liebe weiß nichts von Entsagung und beugt sich nicht unter Von jener Stelle ab, die Kean unnachahmlich wiedergab, wo Othello Abschied Die echte Liebe weiß nichts von Entsagung und beugt sich nicht unter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0131" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192934"/> <p xml:id="ID_391" prev="#ID_390"> Von jener Stelle ab, die Kean unnachahmlich wiedergab, wo Othello Abschied<lb/> nimmt von Allem, was bisher sein Stolz und seine Freude war. von dem<lb/> Kriegswerk, das ihn aus niedrem Kreise auf die Höhe des Ruhms gehoben<lb/> hatte, und zu dem er sich fortan unfähig fühlt. Ein solcher Mann greift<lb/> uns ans Herz, wenn er dennoch mit rein menschlichem Erbarmen Die aufs<lb/> innigste bedauert, die ein so holdes Weib war, und die sich und ihn so elend<lb/> machte, indem sie leichfertige Lust für selige Liebe wählt. „0 ^ago, tuo me^<lb/> ot It, ^AM!" Wenn wir ihn wüthen und seine Gattin schimpflich behan¬<lb/> deln sehen, so sind wir doch auch Zeuge, wie der Krampf desselben Leides,<lb/> das sich dort in unwürdigen Zorn gewandelt hat, den heldenstarken Mann<lb/> wie ein Kind zu Boden wirft. Nachdem er sich dem Wirbel der größten<lb/> Pein, die es auf Erden giebt, einer qualvollen Ungewißheit entrungen hat,<lb/> sehen wir ihn gefaßter. Nicht als ein jähzorniger Mörder, vielmehr in der<lb/> Ruhe des Richters, dessen Urtheil freilich die Leidenschaft bestochen hat,<lb/> schreitet er zu der That. Und tief erschüttert fühlen wir, daß dieser feste<lb/> Mann, dem bis zu den Jahren, die sich abwärts neigen, das Leben nur<lb/> dies Eine schöne Glück gewährt hatte, mit seinem jungen Weibe Alles tödtet,<lb/> was ihm selbst das Leben lebenswerth gemacht. Wenn er die entweihten,<lb/> nun im Tod entführten Lippen wieder und wieder mit ersticktem Schluchzen<lb/> küßt, dann löst unser Grauen vor seiner That sich milde in „der Menschheit<lb/> ganzen Jammer" auf. Wie verblendet auch von dem Groll beleidigter Ehre<lb/> und der Bitterkeit betrogener Liebe, er hat sie getödtet, damit sie nicht der<lb/> Schmach anheimfalle „wie der Himmel, strafend, weil er liebt." Als ein<lb/> „Sühnopfer" sieht er ihr irdisch Theil fallen, ihre Seele soll durch ein letztes<lb/> Gebet gereinigt hinübergehen. —</p><lb/> <p xml:id="ID_392" next="#ID_393"> Die echte Liebe weiß nichts von Entsagung und beugt sich nicht unter<lb/> das Gebot der Familientyrannei. Eine flüchtige Neigung, eine verirrte Lei¬<lb/> denschaft mag sich von der Familie bestimmen lassen, die wahre Liebe aber<lb/> fühlt auch dieser gegenüber ihre Selbständigkeit. Auch hier, wie in so vielen<lb/> wichtigsten Beziehungen des Lebens, sind es nicht die groben Zügen des Buch¬<lb/> stabens, die das Leben beherrschen, sondern freie Erkenntniß und tiefes, war¬<lb/> mes Empfinden. Die Herrschaft des Buchstabens ist freilich einfacher, aber<lb/> es ist das Reich der Unfreiheit. Bon jeher haben freie Herzen sich gegen die<lb/> Knechtung ihres reinsten, tiefsten und süßesten Gefühls durch- die Willkür der<lb/> Familie empört, und diesem Boden sind viele tragische Konflikte entsprungen.<lb/> Lange Zeit hat die Gesellschaft solche Konflikte gehäuft. Wegen der dumpfen<lb/> Gebundenheit, in der die Gemüther lebten, heiligte sie die Willkür der El¬<lb/> tern zur Sitte. Die Herzensneigung der Kinder zu bestimmen, zu ignoriren<lb/> galt für Elternrecht. Solche Anschauung war eine der unzähligen Corse-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0131]
Von jener Stelle ab, die Kean unnachahmlich wiedergab, wo Othello Abschied
nimmt von Allem, was bisher sein Stolz und seine Freude war. von dem
Kriegswerk, das ihn aus niedrem Kreise auf die Höhe des Ruhms gehoben
hatte, und zu dem er sich fortan unfähig fühlt. Ein solcher Mann greift
uns ans Herz, wenn er dennoch mit rein menschlichem Erbarmen Die aufs
innigste bedauert, die ein so holdes Weib war, und die sich und ihn so elend
machte, indem sie leichfertige Lust für selige Liebe wählt. „0 ^ago, tuo me^
ot It, ^AM!" Wenn wir ihn wüthen und seine Gattin schimpflich behan¬
deln sehen, so sind wir doch auch Zeuge, wie der Krampf desselben Leides,
das sich dort in unwürdigen Zorn gewandelt hat, den heldenstarken Mann
wie ein Kind zu Boden wirft. Nachdem er sich dem Wirbel der größten
Pein, die es auf Erden giebt, einer qualvollen Ungewißheit entrungen hat,
sehen wir ihn gefaßter. Nicht als ein jähzorniger Mörder, vielmehr in der
Ruhe des Richters, dessen Urtheil freilich die Leidenschaft bestochen hat,
schreitet er zu der That. Und tief erschüttert fühlen wir, daß dieser feste
Mann, dem bis zu den Jahren, die sich abwärts neigen, das Leben nur
dies Eine schöne Glück gewährt hatte, mit seinem jungen Weibe Alles tödtet,
was ihm selbst das Leben lebenswerth gemacht. Wenn er die entweihten,
nun im Tod entführten Lippen wieder und wieder mit ersticktem Schluchzen
küßt, dann löst unser Grauen vor seiner That sich milde in „der Menschheit
ganzen Jammer" auf. Wie verblendet auch von dem Groll beleidigter Ehre
und der Bitterkeit betrogener Liebe, er hat sie getödtet, damit sie nicht der
Schmach anheimfalle „wie der Himmel, strafend, weil er liebt." Als ein
„Sühnopfer" sieht er ihr irdisch Theil fallen, ihre Seele soll durch ein letztes
Gebet gereinigt hinübergehen. —
Die echte Liebe weiß nichts von Entsagung und beugt sich nicht unter
das Gebot der Familientyrannei. Eine flüchtige Neigung, eine verirrte Lei¬
denschaft mag sich von der Familie bestimmen lassen, die wahre Liebe aber
fühlt auch dieser gegenüber ihre Selbständigkeit. Auch hier, wie in so vielen
wichtigsten Beziehungen des Lebens, sind es nicht die groben Zügen des Buch¬
stabens, die das Leben beherrschen, sondern freie Erkenntniß und tiefes, war¬
mes Empfinden. Die Herrschaft des Buchstabens ist freilich einfacher, aber
es ist das Reich der Unfreiheit. Bon jeher haben freie Herzen sich gegen die
Knechtung ihres reinsten, tiefsten und süßesten Gefühls durch- die Willkür der
Familie empört, und diesem Boden sind viele tragische Konflikte entsprungen.
Lange Zeit hat die Gesellschaft solche Konflikte gehäuft. Wegen der dumpfen
Gebundenheit, in der die Gemüther lebten, heiligte sie die Willkür der El¬
tern zur Sitte. Die Herzensneigung der Kinder zu bestimmen, zu ignoriren
galt für Elternrecht. Solche Anschauung war eine der unzähligen Corse-
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