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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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oder auch nur das Gefühl sittlicher Verantwortlichkeit durch physiologische
Einflüsse wesentlich abschwächen lassen. Diese ethnologische Dramaturgie, deren
Ursprung aus A. W. Schlegel zurückführt, hat die neuere Kritik längst zu
den Todten geworfen, in der Volksphantasie aber lebt sie munter fort.
Shakspeare hat den Mohren nur gebraucht, um durch das Pariagefühl des
Schwarzen das Mißtrauen zu motiviren, das der Held, bei allem durch Ver¬
dienst und Ehren begründeten Selbstgefühl, gegenüber einer Gattin aus der
Brahmcmenkaste zu empfinden geneigt war. Zugleich mußte die afrikanische
Abstammung dazu dienen, mit größtem Nachdruck die glühende Leidenschaft¬
lichkeit hervorzuheben, die der Mohr durch die Zucht eines überlegenen Wil¬
lens dem "Chaos" entrückt und, mit starker Hand, doch nicht völlig gebän¬
digt, in den Dienst großer Zwecke gestellt hat. Uns will bedünken, daß man
durchweg einen Mann, der diese große Aufgabe inmitten einer Gesellschaft,
deren schlecht verhehlter Hochmuth sein lebhaftes Ehrgefühl nicht selten tief
verletzen mußte, dennoch so schön gelöst hat, daß man diesen Mann durch¬
weg zu niedrig angeschlagen hat; wie man umgekehrt Desdemona zu hoch zu
stellen pflegt, und so den Sinn der Tragödie verwirrt. Othello ist einer
jener Charaktere, die sich selbst erzogen haben, und denen dies so vortrefflich
gelungen ist, daß man sie, nach dem Wort des großen deutschen Dichters,
stolz auf den Werth des Menschen der Welt zeigen, und von ihnen rühmen
darf: "Seht, das hat ihm Keiner gegeben, das ist er selbst!" Nie von Kleinem
oder Niedrigen erregt, in allen persönlichen Beziehungen, selbst den öffent¬
lichen Kränkungen Brabantio's gegenüber, von überlegener Gelassenheit, bricht
"die elektrische Willensmacht des Feldherrn" nur da durch, wo es gilt, Wohl
und Ehre des Staates zu verfechten: auf dem Schlachtfeld, wo Venedigs
Dasein bedroht, in der Fremde, wo seine Bürger verunglimpft werden, im
Kriegsdienst auf Cypern, wo die Disciplin des Heeres und die Ruhe der
Insel gefährdet erscheinen.

Noch in solchen Stunden ruht seine Leidenschaft auf dem Grunde fast
unerschütterlicher Selbstbeherrschung: die Kugeln, die den eignen Bruder ihm
von der Seite reißen und "seine Schlachtreihen in die Lust sprengen", bringen
seine Seele nicht aus dem Gleichgewicht. Ein Mann von gewaltiger, gehal¬
tener Kraft, die Keiner bändigt als er selbst; der mit ruhiger Ironie Bra¬
bantio's gezückte Schwerter aufhält; der halb ein Knabe noch "mit kleinem
Arm und gutem Schwert" durch mehr als zwanzigfache Uebermacht sich durch¬
schlug; von dessen Streich nachmals, "regt er sich nur, der Beste fällt."
Solch eine Eiche vom Sturm geknickt zu sehen, ist ein tragisches Schauspiel;
eine "Bestie" zu erblicken, die gegen ein Weib wüthet, wäre nur gräßlich.

Ein solcher Mann nun, so edel und stark, vermag uns tief zu rühren,
wo wir ihn, an Liebe und Ehre tödlich verwundet, ganz gebrochen sehen-


oder auch nur das Gefühl sittlicher Verantwortlichkeit durch physiologische
Einflüsse wesentlich abschwächen lassen. Diese ethnologische Dramaturgie, deren
Ursprung aus A. W. Schlegel zurückführt, hat die neuere Kritik längst zu
den Todten geworfen, in der Volksphantasie aber lebt sie munter fort.
Shakspeare hat den Mohren nur gebraucht, um durch das Pariagefühl des
Schwarzen das Mißtrauen zu motiviren, das der Held, bei allem durch Ver¬
dienst und Ehren begründeten Selbstgefühl, gegenüber einer Gattin aus der
Brahmcmenkaste zu empfinden geneigt war. Zugleich mußte die afrikanische
Abstammung dazu dienen, mit größtem Nachdruck die glühende Leidenschaft¬
lichkeit hervorzuheben, die der Mohr durch die Zucht eines überlegenen Wil¬
lens dem „Chaos" entrückt und, mit starker Hand, doch nicht völlig gebän¬
digt, in den Dienst großer Zwecke gestellt hat. Uns will bedünken, daß man
durchweg einen Mann, der diese große Aufgabe inmitten einer Gesellschaft,
deren schlecht verhehlter Hochmuth sein lebhaftes Ehrgefühl nicht selten tief
verletzen mußte, dennoch so schön gelöst hat, daß man diesen Mann durch¬
weg zu niedrig angeschlagen hat; wie man umgekehrt Desdemona zu hoch zu
stellen pflegt, und so den Sinn der Tragödie verwirrt. Othello ist einer
jener Charaktere, die sich selbst erzogen haben, und denen dies so vortrefflich
gelungen ist, daß man sie, nach dem Wort des großen deutschen Dichters,
stolz auf den Werth des Menschen der Welt zeigen, und von ihnen rühmen
darf: „Seht, das hat ihm Keiner gegeben, das ist er selbst!" Nie von Kleinem
oder Niedrigen erregt, in allen persönlichen Beziehungen, selbst den öffent¬
lichen Kränkungen Brabantio's gegenüber, von überlegener Gelassenheit, bricht
„die elektrische Willensmacht des Feldherrn" nur da durch, wo es gilt, Wohl
und Ehre des Staates zu verfechten: auf dem Schlachtfeld, wo Venedigs
Dasein bedroht, in der Fremde, wo seine Bürger verunglimpft werden, im
Kriegsdienst auf Cypern, wo die Disciplin des Heeres und die Ruhe der
Insel gefährdet erscheinen.

Noch in solchen Stunden ruht seine Leidenschaft auf dem Grunde fast
unerschütterlicher Selbstbeherrschung: die Kugeln, die den eignen Bruder ihm
von der Seite reißen und „seine Schlachtreihen in die Lust sprengen", bringen
seine Seele nicht aus dem Gleichgewicht. Ein Mann von gewaltiger, gehal¬
tener Kraft, die Keiner bändigt als er selbst; der mit ruhiger Ironie Bra¬
bantio's gezückte Schwerter aufhält; der halb ein Knabe noch „mit kleinem
Arm und gutem Schwert" durch mehr als zwanzigfache Uebermacht sich durch¬
schlug; von dessen Streich nachmals, „regt er sich nur, der Beste fällt."
Solch eine Eiche vom Sturm geknickt zu sehen, ist ein tragisches Schauspiel;
eine „Bestie" zu erblicken, die gegen ein Weib wüthet, wäre nur gräßlich.

Ein solcher Mann nun, so edel und stark, vermag uns tief zu rühren,
wo wir ihn, an Liebe und Ehre tödlich verwundet, ganz gebrochen sehen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/130>, abgerufen am 06.02.2025.