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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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begreifen, muß man wohl oder übel gewisse Verstandesoperationen machen und
folglich machen können. Aber es giebt Leute, die den halben Faust auswen¬
dig können und keiner einzigen Verstandesoperation fähig sind. Aus das so
streitige innere Verständniß der Dichtungen hin zu prüfen, ist wie gesagt
unthunlich.

Eine andere Schwierigkeit der für das geistliche Amt erforderlichen Staats¬
prüfung liegt in der Kenntniß der Philosophie. Diese Königin der Wissen¬
schaften, die uns Deutschen auf dem Gebiete der Theorie Schätze gegeben, die
kein anderes Volk besitzt, befindet sich augenblicklich in einem Zustande trost¬
loser Anarchie. Jene Schätze, ein geistlicher Hort der Nibelungen, sind halb
verschüttet. Aus den Trümmern des stolzen Baues brechen Barbaren und
Kinder Stücke heraus und machen sich Spielwerk davon. Eine verschwindend
kleine Zahl von Männern bewahrt noch das Geheimniß der ursprünglichen
Anlage und ihres Zweckes. Aber vor der Hand fehlt der Zeit der Sinn,
dieses Geheimniß zu erwecken, und die Fähigkeit, es zum Born wissenschaft¬
lichen Lebens zu machen. Sie hat vorläufig anderes zu thun. Wenn der
Cultusminister die näheren Anordnungen über die Prüfung in der Philo¬
sophie erläßt, so wird er darauf zu halten haben, daß die heutigen Inhaber
der philosophischen Katheder nicht die anarchischen Einfälle ihrer resp. Köpfe
von den unglücklichen Examinanden als gläubig empfangene Weisheit ver¬
langen. Die Herren Philosophen von heute müssen angehalten werden, sich
über einen gemeinsamen Besitzstand ihrer Wissenschaft zu verständigen: der¬
jenigen Wissenschaft, deren Besitzstand die größten Geister der Menschheit
zusammengetragen haben. Sollte sich zeigen, daß für die heutigen Philo¬
sophen kein gemeinsam anerkannter Besitzstand vorhanden, so muß man auf
die Prüfung in der Philosophie verzichten. Es kann nicht gethan sein mit
der sogenannten Geschichte der Philosophie. Denn es ist unmöglich, ein wahr¬
haft philosophisches System bloß äußerlich zu kennen. -- Das Abgeordneten¬
haus hat die Prüfungsgegenstände einstweilen nach dem Vorschlag der Com¬
mission festgesetzt. Wir wiederholen, daß die Hauptsache in die Hand des
Cultusministers gelegt ist. Er sollte die philosophische Prüfung so einrichten,
daß sie die Naturwissenschaften in sich begriffe, und die Prüfung in der Lite¬
ratur so, daß sie die Lernaufgabe der Examinanden nicht wirklich belastet.

Man hat von klerikaler Seite die Unbilligkeit hervorgehoben, welche darin
liegen soll, daß man von den Klerikern eine Staatsprüfung zur Bewährung
allgemeiner Bildung fordert, wie man sie keinem anderen Beruf auflegt. Die
Herren, die so sprachen, vergessen aber zweierlei. Erstens sind in anderen Be¬
rufen die Prüfungen ganz und gar Staatsprüfungen, vom Staat allein an¬
geordnet und von Beauftragten des Staats allein abgenommen. Zweitens
aber läßt doch der geistliche Beruf sich am allerwenigsten als ein techni-


begreifen, muß man wohl oder übel gewisse Verstandesoperationen machen und
folglich machen können. Aber es giebt Leute, die den halben Faust auswen¬
dig können und keiner einzigen Verstandesoperation fähig sind. Aus das so
streitige innere Verständniß der Dichtungen hin zu prüfen, ist wie gesagt
unthunlich.

Eine andere Schwierigkeit der für das geistliche Amt erforderlichen Staats¬
prüfung liegt in der Kenntniß der Philosophie. Diese Königin der Wissen¬
schaften, die uns Deutschen auf dem Gebiete der Theorie Schätze gegeben, die
kein anderes Volk besitzt, befindet sich augenblicklich in einem Zustande trost¬
loser Anarchie. Jene Schätze, ein geistlicher Hort der Nibelungen, sind halb
verschüttet. Aus den Trümmern des stolzen Baues brechen Barbaren und
Kinder Stücke heraus und machen sich Spielwerk davon. Eine verschwindend
kleine Zahl von Männern bewahrt noch das Geheimniß der ursprünglichen
Anlage und ihres Zweckes. Aber vor der Hand fehlt der Zeit der Sinn,
dieses Geheimniß zu erwecken, und die Fähigkeit, es zum Born wissenschaft¬
lichen Lebens zu machen. Sie hat vorläufig anderes zu thun. Wenn der
Cultusminister die näheren Anordnungen über die Prüfung in der Philo¬
sophie erläßt, so wird er darauf zu halten haben, daß die heutigen Inhaber
der philosophischen Katheder nicht die anarchischen Einfälle ihrer resp. Köpfe
von den unglücklichen Examinanden als gläubig empfangene Weisheit ver¬
langen. Die Herren Philosophen von heute müssen angehalten werden, sich
über einen gemeinsamen Besitzstand ihrer Wissenschaft zu verständigen: der¬
jenigen Wissenschaft, deren Besitzstand die größten Geister der Menschheit
zusammengetragen haben. Sollte sich zeigen, daß für die heutigen Philo¬
sophen kein gemeinsam anerkannter Besitzstand vorhanden, so muß man auf
die Prüfung in der Philosophie verzichten. Es kann nicht gethan sein mit
der sogenannten Geschichte der Philosophie. Denn es ist unmöglich, ein wahr¬
haft philosophisches System bloß äußerlich zu kennen. — Das Abgeordneten¬
haus hat die Prüfungsgegenstände einstweilen nach dem Vorschlag der Com¬
mission festgesetzt. Wir wiederholen, daß die Hauptsache in die Hand des
Cultusministers gelegt ist. Er sollte die philosophische Prüfung so einrichten,
daß sie die Naturwissenschaften in sich begriffe, und die Prüfung in der Lite¬
ratur so, daß sie die Lernaufgabe der Examinanden nicht wirklich belastet.

Man hat von klerikaler Seite die Unbilligkeit hervorgehoben, welche darin
liegen soll, daß man von den Klerikern eine Staatsprüfung zur Bewährung
allgemeiner Bildung fordert, wie man sie keinem anderen Beruf auflegt. Die
Herren, die so sprachen, vergessen aber zweierlei. Erstens sind in anderen Be¬
rufen die Prüfungen ganz und gar Staatsprüfungen, vom Staat allein an¬
geordnet und von Beauftragten des Staats allein abgenommen. Zweitens
aber läßt doch der geistliche Beruf sich am allerwenigsten als ein techni-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/479>, abgerufen am 24.08.2024.