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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Bau befestigten Staates der Gesellschaft gegenüber tritt, wenn die Kreise der
Gesellschaft in der selbstthätigen Erfüllung der Staatspflichten sicher an das
neue Beamtenthum angeschlossen sind, wenn die Wissenschaft ihre materialistische
Zersplitterung wieder bemeistert hat, wenn der sittliche Glaube an den sitt¬
lichen Thaten sich wieder aufgerichtet, der sittliche Zweck wiederum vor Aller
Augen steht. Es wird dahin kommen, aber es ist noch nicht so weit. Noch
nicht so weit, wie die Franzosen es bereits vor zweihundert Jahren gebracht
hatten, freilich auf ihre Art. Aber sie hatten damals schon eine große ein¬
heitlich fühlende Gesellschaft, ein festes Gleichgewicht des Idealen und
selbstischen, einen sicheren Ehrbegriff, eine unüberschreitbare, gesellige Form,
einen entzündbaren Egoismus und eine mit der Gewalt des Naturells aus
den verschiedensten Lagen, in den unwahrscheinlichsten Momenten chevaleresk und
oft genial hervorbrechende Großmuth. Unvergleichliche Elemente unerschöpf¬
licher Bühnenkunst! Diese fertige Volkspersönlichkeit hat sich den erstaunlichsten
und gewaltsamsten Krisen gegenüber behauptet, dieselben nicht, wie es zu
ihrem Heil gewesen wäre, zur eignen Vertiefung verarbeitet, aber sich doch
stets mit jedem Erlebniß gewandt und geistreich auseinandergesetzt. Wenn wir
eine fertige Volkspersönlichkeit geworden, ein ähnliches Gleichgewicht gesunden
haben, dann werden wir auch eine schnell bereite Kunst haben, die uns die
Abspiegelung unseres Lebens im Kampfe mit seinen Schicksalen zeigt.

Die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Lebens in einer so großen Stadt
wie Berlin, bei einer solchen Mannigfaltigkeit der Elemente, ist ein Thema,
das ich in späteren Briefen nach verschiedenen Seiten zu beleuchten gedenke.
Aber eine Beobachtung gehört noch zu der heutigen Betrachtung. Daß Berlin
noch so wenig auf Deutschland wirkt und gewirkt hat, ist nach dem Gesagten
erklärlich. Aber nach einer gewissen Seite hat es schon lange gewirkt, und
die Beobachtungen, nach welcher Seite dies geschehen, ist interessant genug.
Berlins Possen und Witzblätter von dem Eckensteher Rande bis auf die
Mottenburger und ihre Nachfolger haben sich über Deutschland verbreitet,
wenn sie auch nicht immer eine gefällige Aufnahme fanden. Sollen wir dabei
an Heine's Vers denken: "nur wenn wir im Koth uns fanden, da verstanden
wir uns gleich"? Nein. Die höhere Gesellschaft Berlins war und ist bis
heute unfertig, wie die höhere Gesellschaft Deutschlands überhaupt. Die untere
Gesellschaft Berlins ist seit lange eine fertige Persönlichkeit. Der witzige
Haufe, der das Leben auf der großen Bühne nicht versteht, aber jeden Mi߬
griff, jede Niederlage wahrnimmt und verhöhnt, dieser Haufe hat zu allen
Zeiten existirt, und man hat ihn auch längst bald als würdevollen aber rath¬
losen Chor, bald als nichtswürdigen Pöbel, wie bei Aristophanes und Shake¬
speare, auf die Bühne gebracht. Aber dieser Haufe hat im Berliner Naturell
des niederen Volks einen ganz besonders scharfen und beweglichen Typus ge.


Bau befestigten Staates der Gesellschaft gegenüber tritt, wenn die Kreise der
Gesellschaft in der selbstthätigen Erfüllung der Staatspflichten sicher an das
neue Beamtenthum angeschlossen sind, wenn die Wissenschaft ihre materialistische
Zersplitterung wieder bemeistert hat, wenn der sittliche Glaube an den sitt¬
lichen Thaten sich wieder aufgerichtet, der sittliche Zweck wiederum vor Aller
Augen steht. Es wird dahin kommen, aber es ist noch nicht so weit. Noch
nicht so weit, wie die Franzosen es bereits vor zweihundert Jahren gebracht
hatten, freilich auf ihre Art. Aber sie hatten damals schon eine große ein¬
heitlich fühlende Gesellschaft, ein festes Gleichgewicht des Idealen und
selbstischen, einen sicheren Ehrbegriff, eine unüberschreitbare, gesellige Form,
einen entzündbaren Egoismus und eine mit der Gewalt des Naturells aus
den verschiedensten Lagen, in den unwahrscheinlichsten Momenten chevaleresk und
oft genial hervorbrechende Großmuth. Unvergleichliche Elemente unerschöpf¬
licher Bühnenkunst! Diese fertige Volkspersönlichkeit hat sich den erstaunlichsten
und gewaltsamsten Krisen gegenüber behauptet, dieselben nicht, wie es zu
ihrem Heil gewesen wäre, zur eignen Vertiefung verarbeitet, aber sich doch
stets mit jedem Erlebniß gewandt und geistreich auseinandergesetzt. Wenn wir
eine fertige Volkspersönlichkeit geworden, ein ähnliches Gleichgewicht gesunden
haben, dann werden wir auch eine schnell bereite Kunst haben, die uns die
Abspiegelung unseres Lebens im Kampfe mit seinen Schicksalen zeigt.

Die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Lebens in einer so großen Stadt
wie Berlin, bei einer solchen Mannigfaltigkeit der Elemente, ist ein Thema,
das ich in späteren Briefen nach verschiedenen Seiten zu beleuchten gedenke.
Aber eine Beobachtung gehört noch zu der heutigen Betrachtung. Daß Berlin
noch so wenig auf Deutschland wirkt und gewirkt hat, ist nach dem Gesagten
erklärlich. Aber nach einer gewissen Seite hat es schon lange gewirkt, und
die Beobachtungen, nach welcher Seite dies geschehen, ist interessant genug.
Berlins Possen und Witzblätter von dem Eckensteher Rande bis auf die
Mottenburger und ihre Nachfolger haben sich über Deutschland verbreitet,
wenn sie auch nicht immer eine gefällige Aufnahme fanden. Sollen wir dabei
an Heine's Vers denken: „nur wenn wir im Koth uns fanden, da verstanden
wir uns gleich"? Nein. Die höhere Gesellschaft Berlins war und ist bis
heute unfertig, wie die höhere Gesellschaft Deutschlands überhaupt. Die untere
Gesellschaft Berlins ist seit lange eine fertige Persönlichkeit. Der witzige
Haufe, der das Leben auf der großen Bühne nicht versteht, aber jeden Mi߬
griff, jede Niederlage wahrnimmt und verhöhnt, dieser Haufe hat zu allen
Zeiten existirt, und man hat ihn auch längst bald als würdevollen aber rath¬
losen Chor, bald als nichtswürdigen Pöbel, wie bei Aristophanes und Shake¬
speare, auf die Bühne gebracht. Aber dieser Haufe hat im Berliner Naturell
des niederen Volks einen ganz besonders scharfen und beweglichen Typus ge.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/42>, abgerufen am 29.06.2024.