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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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der religiösen, politischen und socialen Ideen abgesehen, die als lebendige und
bestimmende Mächte die Neuzeit und die Gegenwart beherrschen oder sie con-
struiren. Sie sollen von ihrer ersten Genesis urkundlich verfolgt und darge¬
legt werden, wie es der Historiker zu thun hat'. Seinem Bereiche gehört einst¬
weilen jenes weitschichtige und dunkle Gebiet noch nicht an, welches nament¬
lich in der allerneusten Zeit als Ur- oder Vorgeschichte der Menschheit aus
dem bedeckenden Schutt gegraben oder aus der Schlemme der Sumpfseen und
Flüsse gefischt wird. Möglich, daß dereinst eine Zeit kommen wird, wo sich
dasselbe zu einer ebenso urkundlich sichern wissenschaftlichen Erkenntnißquelle ver¬
wandeln mag, wie das, was wir jetzt noch das Recht haben ausschließlich mit
diesem Ehrennamen zu bezeichnen. Im Jahre 18SV wußte man noch nicht
viel von Pfahlbauten und urweltlichen Höhlenbewohnern. Aber selbst wenn
man mehr davon gewußt hätte, so durfte und mußte es der Historiker schlecht¬
weg ignoriren und darum ist es weder eine Eigenthümlichkeit noch ein Mangel
des Buches von Tochter, daß es die Geschichte der menschlichen Cultur mit
einer wahrhaft urkundlich bezeugten Basis, mit der Geschichte der Jndier be¬
ginnt und so weiter von einer concreten Gestaltung des orientalischen Völker"
lebens zu der andern fortschreitet. Wohl aber darf man fragen, ob die Ge¬
schichte der Jndier diesen bevorzugten Platz an der Spitze einer genetischen
Geschichte der großen Ideen, welche bis in unsere Gegenwart hineinragen,
wirklich zu beanspruchen ein Recht habe.

Die Antwort wird von der modernen Wissenschaft mit wünschenswer-
thester Präcision dahin gegeben, daß der indische Culturkreis ohne alle be¬
stimmenden Einwirkungen auf den, "vorderasiatischen" wollen wir ihn mit
Tochter nennen, d. h. den iranischen, semitischen oder auf den ägyptischen ge¬
blieben ist. Wenn frühere Hypothesen die ägyptische Cultur von Indien ab¬
leiteten, so erscheint uns das jetzt kaum weniger seltsam als die Versuche,
China und Aegypten oder China und Mexico in genetischen Zusammenhang
mit einander zu setzen. Indien ist auf der anderen Seite in seiner Entwickel¬
ung offenbar durch westasiatische Einflüsse gefördert, aber keineswegs wesentlich
bestimmt worden. Indessen ist es bis jetzt noch schwierig, außer der Thatsache
an sich, irgend welche einzelne Momente mit Sicherheit herauszuheben, an
denen sich der Einfluß der Fremde, sei es der griechischen Wissenschaft, Lite¬
ratur und Kunst, sei es der der Araber handgreiflich darthun ließe. Und
selbst wenn es möglich wäre, so würde Indien doch nicht in den Kreis unsrer
Culturwelt gehören. Es ist und bleibt eigenartig, eine Culturwelt für sich,
aus sich herausgewachsen und nur nach ihren eigenen Idealen zu messen.
Denn die von der modernen Sprachwissenschaft bewiesene Gemeinsamkeit der
Sprache bedingt als ein an sich rein naturalistisches Element noch keine factische
Gemeinsamkeit der geistigen Interessen. Höchstens dürfte man daraus folgern,


der religiösen, politischen und socialen Ideen abgesehen, die als lebendige und
bestimmende Mächte die Neuzeit und die Gegenwart beherrschen oder sie con-
struiren. Sie sollen von ihrer ersten Genesis urkundlich verfolgt und darge¬
legt werden, wie es der Historiker zu thun hat'. Seinem Bereiche gehört einst¬
weilen jenes weitschichtige und dunkle Gebiet noch nicht an, welches nament¬
lich in der allerneusten Zeit als Ur- oder Vorgeschichte der Menschheit aus
dem bedeckenden Schutt gegraben oder aus der Schlemme der Sumpfseen und
Flüsse gefischt wird. Möglich, daß dereinst eine Zeit kommen wird, wo sich
dasselbe zu einer ebenso urkundlich sichern wissenschaftlichen Erkenntnißquelle ver¬
wandeln mag, wie das, was wir jetzt noch das Recht haben ausschließlich mit
diesem Ehrennamen zu bezeichnen. Im Jahre 18SV wußte man noch nicht
viel von Pfahlbauten und urweltlichen Höhlenbewohnern. Aber selbst wenn
man mehr davon gewußt hätte, so durfte und mußte es der Historiker schlecht¬
weg ignoriren und darum ist es weder eine Eigenthümlichkeit noch ein Mangel
des Buches von Tochter, daß es die Geschichte der menschlichen Cultur mit
einer wahrhaft urkundlich bezeugten Basis, mit der Geschichte der Jndier be¬
ginnt und so weiter von einer concreten Gestaltung des orientalischen Völker»
lebens zu der andern fortschreitet. Wohl aber darf man fragen, ob die Ge¬
schichte der Jndier diesen bevorzugten Platz an der Spitze einer genetischen
Geschichte der großen Ideen, welche bis in unsere Gegenwart hineinragen,
wirklich zu beanspruchen ein Recht habe.

Die Antwort wird von der modernen Wissenschaft mit wünschenswer-
thester Präcision dahin gegeben, daß der indische Culturkreis ohne alle be¬
stimmenden Einwirkungen auf den, „vorderasiatischen" wollen wir ihn mit
Tochter nennen, d. h. den iranischen, semitischen oder auf den ägyptischen ge¬
blieben ist. Wenn frühere Hypothesen die ägyptische Cultur von Indien ab¬
leiteten, so erscheint uns das jetzt kaum weniger seltsam als die Versuche,
China und Aegypten oder China und Mexico in genetischen Zusammenhang
mit einander zu setzen. Indien ist auf der anderen Seite in seiner Entwickel¬
ung offenbar durch westasiatische Einflüsse gefördert, aber keineswegs wesentlich
bestimmt worden. Indessen ist es bis jetzt noch schwierig, außer der Thatsache
an sich, irgend welche einzelne Momente mit Sicherheit herauszuheben, an
denen sich der Einfluß der Fremde, sei es der griechischen Wissenschaft, Lite¬
ratur und Kunst, sei es der der Araber handgreiflich darthun ließe. Und
selbst wenn es möglich wäre, so würde Indien doch nicht in den Kreis unsrer
Culturwelt gehören. Es ist und bleibt eigenartig, eine Culturwelt für sich,
aus sich herausgewachsen und nur nach ihren eigenen Idealen zu messen.
Denn die von der modernen Sprachwissenschaft bewiesene Gemeinsamkeit der
Sprache bedingt als ein an sich rein naturalistisches Element noch keine factische
Gemeinsamkeit der geistigen Interessen. Höchstens dürfte man daraus folgern,


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[0413] der religiösen, politischen und socialen Ideen abgesehen, die als lebendige und bestimmende Mächte die Neuzeit und die Gegenwart beherrschen oder sie con- struiren. Sie sollen von ihrer ersten Genesis urkundlich verfolgt und darge¬ legt werden, wie es der Historiker zu thun hat'. Seinem Bereiche gehört einst¬ weilen jenes weitschichtige und dunkle Gebiet noch nicht an, welches nament¬ lich in der allerneusten Zeit als Ur- oder Vorgeschichte der Menschheit aus dem bedeckenden Schutt gegraben oder aus der Schlemme der Sumpfseen und Flüsse gefischt wird. Möglich, daß dereinst eine Zeit kommen wird, wo sich dasselbe zu einer ebenso urkundlich sichern wissenschaftlichen Erkenntnißquelle ver¬ wandeln mag, wie das, was wir jetzt noch das Recht haben ausschließlich mit diesem Ehrennamen zu bezeichnen. Im Jahre 18SV wußte man noch nicht viel von Pfahlbauten und urweltlichen Höhlenbewohnern. Aber selbst wenn man mehr davon gewußt hätte, so durfte und mußte es der Historiker schlecht¬ weg ignoriren und darum ist es weder eine Eigenthümlichkeit noch ein Mangel des Buches von Tochter, daß es die Geschichte der menschlichen Cultur mit einer wahrhaft urkundlich bezeugten Basis, mit der Geschichte der Jndier be¬ ginnt und so weiter von einer concreten Gestaltung des orientalischen Völker» lebens zu der andern fortschreitet. Wohl aber darf man fragen, ob die Ge¬ schichte der Jndier diesen bevorzugten Platz an der Spitze einer genetischen Geschichte der großen Ideen, welche bis in unsere Gegenwart hineinragen, wirklich zu beanspruchen ein Recht habe. Die Antwort wird von der modernen Wissenschaft mit wünschenswer- thester Präcision dahin gegeben, daß der indische Culturkreis ohne alle be¬ stimmenden Einwirkungen auf den, „vorderasiatischen" wollen wir ihn mit Tochter nennen, d. h. den iranischen, semitischen oder auf den ägyptischen ge¬ blieben ist. Wenn frühere Hypothesen die ägyptische Cultur von Indien ab¬ leiteten, so erscheint uns das jetzt kaum weniger seltsam als die Versuche, China und Aegypten oder China und Mexico in genetischen Zusammenhang mit einander zu setzen. Indien ist auf der anderen Seite in seiner Entwickel¬ ung offenbar durch westasiatische Einflüsse gefördert, aber keineswegs wesentlich bestimmt worden. Indessen ist es bis jetzt noch schwierig, außer der Thatsache an sich, irgend welche einzelne Momente mit Sicherheit herauszuheben, an denen sich der Einfluß der Fremde, sei es der griechischen Wissenschaft, Lite¬ ratur und Kunst, sei es der der Araber handgreiflich darthun ließe. Und selbst wenn es möglich wäre, so würde Indien doch nicht in den Kreis unsrer Culturwelt gehören. Es ist und bleibt eigenartig, eine Culturwelt für sich, aus sich herausgewachsen und nur nach ihren eigenen Idealen zu messen. Denn die von der modernen Sprachwissenschaft bewiesene Gemeinsamkeit der Sprache bedingt als ein an sich rein naturalistisches Element noch keine factische Gemeinsamkeit der geistigen Interessen. Höchstens dürfte man daraus folgern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/413>, abgerufen am 25.08.2024.