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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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vorragende Gestalt ist er denn doch nicht gewesen -- hat auch selbst am we¬
nigsten beansprucht, es zu sein -- daß Alles, was als Reliquie auf ihn bezogen
werden kann, an sich schon ein Recht hätte, nicht bloß pietätsvoll erhalten,
sondern auch von Allen ehrfurchtsvoll gepflegt zu werden. Aber als Prototyp
einer einflußreichen und weitverbreiteten Gruppe von Individualitäten, einer
eigenthümlichen Weltanschauung und Seelenstimmung erhält eine solche Indi¬
vidualität und Alles, was zu ihrer Signatur gehört, ungefähr dieselbe Be¬
deutung für den denkenden Betrachter der Zeit, wie in andrer Art jene ver¬
einzelten Giganten, die für sich allein und nicht als Maß der Andern ver¬
standen sein wollen, wenn man nicht ihnen selbst und den andern Unrecht
thun soll. Versteht man durch sie das, was man das Pathos der Zeit
nennen könnte, so stellen die andern das Ethos derselben dar und beide zu¬
sammen sind erst der ganze Geist der Zeit.

Gewiß würden nicht viele Assessoren und Stadtrichter die Neigung oder
die Fähigkeit haben, das zu leisten, was hier einer ihrer Collegen in seinen
"Mußestunden" geleistet hat. Niemand würde es ihnen verübeln, wenn sie
eine solche Zumuthung mit der Frage erwiederten, ob Mußestunden zu solcher
Arbeit geschaffen seien. Aber ebenso gewiß sind die Grundanschauungen und
der geistige Horizont, die Auffassung des Lebens und der großen treibenden
Kräfte des intellectuellen und realen Daseins, die Tochter vertritt, nicht bloß
sein Eigenthum, sondern trotz der verschiedenartigsten zufälligen Nüaneirungen
weitverbreitet durch die Kreise seiner ehemaligen Standes- und Berufsgenossen.
Dasselbe gilt auch von seinen gebildeten Parteigenossen, die einer andern Be¬
rufssphäre angehören. Und in diesem Sinne darf man wohl behaupten, daß
der Eine hier in seinem Buche gerade so im Namen von Tausenden spricht,
wie er es einst auf der Tribüne gethan hat/

Auch scheint es uns, als wenn wir nur auf diese Art etwas wirklich be¬
deutendes und werthvolles, eine intellectuelle That von bleibendem Werthe in
dem Buche finden könnten, ohne daß wir damit weder der Begabung, noch
dem Fleiß und Geschick seines Verfassers zu nahe treten wollten. Denn
nach dem Maßstab einer culturgeschichtlichen oder geschichtsphilosophischen
Leistung gemessen, wie wir ihn heute überall da anzulegen berechtigt sind, wo
keine besonders bedingenden Umstände eine Ausnahme zu machen zwingen,
ist Tochter's Buch doch nur ein wohlgemeinter, sehr anregender und von den
verschiedensten Seiten her Lob verdienender wissenschaftlicher Versuch, aber keine
in sich vollendete und darum in ihrem Bereich Epoche machende wissenschaft¬
liche That. Auch wenn man billig erwägt, was wir oben schon in Rechnung
gesetzt haben, daß uns nur ein Bruchstück und nicht das Ganze vorliegt, würde
doch auch das Ganze, wenn es vorläge, dieses Urtheil nicht verändern, vielleicht
nur insofern limitiren, als sich die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit seines


vorragende Gestalt ist er denn doch nicht gewesen — hat auch selbst am we¬
nigsten beansprucht, es zu sein — daß Alles, was als Reliquie auf ihn bezogen
werden kann, an sich schon ein Recht hätte, nicht bloß pietätsvoll erhalten,
sondern auch von Allen ehrfurchtsvoll gepflegt zu werden. Aber als Prototyp
einer einflußreichen und weitverbreiteten Gruppe von Individualitäten, einer
eigenthümlichen Weltanschauung und Seelenstimmung erhält eine solche Indi¬
vidualität und Alles, was zu ihrer Signatur gehört, ungefähr dieselbe Be¬
deutung für den denkenden Betrachter der Zeit, wie in andrer Art jene ver¬
einzelten Giganten, die für sich allein und nicht als Maß der Andern ver¬
standen sein wollen, wenn man nicht ihnen selbst und den andern Unrecht
thun soll. Versteht man durch sie das, was man das Pathos der Zeit
nennen könnte, so stellen die andern das Ethos derselben dar und beide zu¬
sammen sind erst der ganze Geist der Zeit.

Gewiß würden nicht viele Assessoren und Stadtrichter die Neigung oder
die Fähigkeit haben, das zu leisten, was hier einer ihrer Collegen in seinen
„Mußestunden" geleistet hat. Niemand würde es ihnen verübeln, wenn sie
eine solche Zumuthung mit der Frage erwiederten, ob Mußestunden zu solcher
Arbeit geschaffen seien. Aber ebenso gewiß sind die Grundanschauungen und
der geistige Horizont, die Auffassung des Lebens und der großen treibenden
Kräfte des intellectuellen und realen Daseins, die Tochter vertritt, nicht bloß
sein Eigenthum, sondern trotz der verschiedenartigsten zufälligen Nüaneirungen
weitverbreitet durch die Kreise seiner ehemaligen Standes- und Berufsgenossen.
Dasselbe gilt auch von seinen gebildeten Parteigenossen, die einer andern Be¬
rufssphäre angehören. Und in diesem Sinne darf man wohl behaupten, daß
der Eine hier in seinem Buche gerade so im Namen von Tausenden spricht,
wie er es einst auf der Tribüne gethan hat/

Auch scheint es uns, als wenn wir nur auf diese Art etwas wirklich be¬
deutendes und werthvolles, eine intellectuelle That von bleibendem Werthe in
dem Buche finden könnten, ohne daß wir damit weder der Begabung, noch
dem Fleiß und Geschick seines Verfassers zu nahe treten wollten. Denn
nach dem Maßstab einer culturgeschichtlichen oder geschichtsphilosophischen
Leistung gemessen, wie wir ihn heute überall da anzulegen berechtigt sind, wo
keine besonders bedingenden Umstände eine Ausnahme zu machen zwingen,
ist Tochter's Buch doch nur ein wohlgemeinter, sehr anregender und von den
verschiedensten Seiten her Lob verdienender wissenschaftlicher Versuch, aber keine
in sich vollendete und darum in ihrem Bereich Epoche machende wissenschaft¬
liche That. Auch wenn man billig erwägt, was wir oben schon in Rechnung
gesetzt haben, daß uns nur ein Bruchstück und nicht das Ganze vorliegt, würde
doch auch das Ganze, wenn es vorläge, dieses Urtheil nicht verändern, vielleicht
nur insofern limitiren, als sich die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit seines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/411>, abgerufen am 25.08.2024.