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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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einseitiger, aber mit immer größeren Erfolgen auf. Die Wissenschaft zerfiel in
Specialist!?, der Glaube an Ideen, an sittliche Zwecke, den nur die lebendige
Beziehung auf das Allgemeine erhalten kann, schien mit der zunehmenden
Hoffnungslosigkeit der politischen Zustände ganz zu entschwinden. Da kam
ungeglaubt, ungehvfft eine theseische Hand. Das Höchste ist uns zu Theil
geworden in wenig mehr, denn in einem halben Jahrzehnt. Die Grund¬
linien unseres staatlichen Nationallebens sind vorgezeichnet, aber noch liegt
das Material des Baues widerspruchsvoll durcheinander, noch sind wir ebenso
von Hoffnung und Besorgniß des Nichtgewonnenen, wie vom Stolz des Er¬
reichten beseelt. Und wir wundern uns, daß wir keine Kunst haben, welche
die Wirkungen großer Erlebnisse auf unser Leben zeichnet? Kann es etwas
Einfacheres geben, als daß, wo das Leben noch nicht in sicheren durchgehenden
Formen sich bewegt, die Reaction dieses Lebens gegen die großen Ereignisse
nicht in allgemein verständlichen, allgemein wirksamen Formen zum Vorschein
kommen kann? Jene Art der Kunst, welche eine der Formen ist, in welcher
sich die Persönlichkeit eines Volkes mit ihrem eignen Schicksal beständig ver¬
mittelt, bald das Schicksal über sich, bald sich über das Schicksal erhebt, diese
Kunst setzt eine fertige Volkspersönlichkeit, eine fertige Gesellschaft voraus.
Fertig nicht etwa im Sinne des Stillstandes, aber fertig in dem Sinne, daß
sie dem neuen Lebensinhalt mit einer festen Form und einem festen bereits
erworbenen Kern gegenüber tritt. Zu einem solchen Kern gehört vor Allem
ein fest gewonnenes Gleichgewicht der idealen und der selbstischen Momente.

Nur auf dem Boden fester großer eingelebter Staatsformen entsteht eine
solche Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft mag in einer großen Hauptstadt
ihren Sammelpunkt finden, aber ein und dasselbe Nervengeflecht muß über
ein großes Reich sich verbreiten, wenn Tiefe und Reichthum des gesellschaft¬
lichen Lebens entstehen sollen. Bei uns war der Staat unfertig, wie er es
zum Theil noch in dieser Stunde ist, wir konnten also keine Gesellschaft haben,
die sich aus den Wurzeln des Staates frei und vielverzweigt und doch nach
einem und demselben Typus emporhebt. Denn auf die Einheit des Typus
kommt es an, wo eine wirkliche Gesellschaft entstehen soll, zu welcher weit¬
verbreitet Fühlfäden gehören, an die sich von den verschiedensten Enden die Wir¬
kungen anknüpfen. Es gibt ein russisches Lustspiel "der Revisor", das von
einem Ende des ungeheuren Reiches zum anderen genossen wird, wo es eine
russische Gesellschaft giebt. Der Stoff ist der Berührung des Beamtenle¬
bens mit der Gesellschaft entnommen. Nun nehme man das verhältnißmäßig
kleine Deutschland. Hier kann es kein Lustspiel geben, das die guten oder
schlechten Seiten des Beamtentums in seiner Berührung mit dem Volksleben
schildert. Ueberall ist die Beamtenhierarchie eine andere, überall sind die
Cvmpetenzen andere, überall bekommt das Verhältniß zur Gesellschaft einen


einseitiger, aber mit immer größeren Erfolgen auf. Die Wissenschaft zerfiel in
Specialist!?, der Glaube an Ideen, an sittliche Zwecke, den nur die lebendige
Beziehung auf das Allgemeine erhalten kann, schien mit der zunehmenden
Hoffnungslosigkeit der politischen Zustände ganz zu entschwinden. Da kam
ungeglaubt, ungehvfft eine theseische Hand. Das Höchste ist uns zu Theil
geworden in wenig mehr, denn in einem halben Jahrzehnt. Die Grund¬
linien unseres staatlichen Nationallebens sind vorgezeichnet, aber noch liegt
das Material des Baues widerspruchsvoll durcheinander, noch sind wir ebenso
von Hoffnung und Besorgniß des Nichtgewonnenen, wie vom Stolz des Er¬
reichten beseelt. Und wir wundern uns, daß wir keine Kunst haben, welche
die Wirkungen großer Erlebnisse auf unser Leben zeichnet? Kann es etwas
Einfacheres geben, als daß, wo das Leben noch nicht in sicheren durchgehenden
Formen sich bewegt, die Reaction dieses Lebens gegen die großen Ereignisse
nicht in allgemein verständlichen, allgemein wirksamen Formen zum Vorschein
kommen kann? Jene Art der Kunst, welche eine der Formen ist, in welcher
sich die Persönlichkeit eines Volkes mit ihrem eignen Schicksal beständig ver¬
mittelt, bald das Schicksal über sich, bald sich über das Schicksal erhebt, diese
Kunst setzt eine fertige Volkspersönlichkeit, eine fertige Gesellschaft voraus.
Fertig nicht etwa im Sinne des Stillstandes, aber fertig in dem Sinne, daß
sie dem neuen Lebensinhalt mit einer festen Form und einem festen bereits
erworbenen Kern gegenüber tritt. Zu einem solchen Kern gehört vor Allem
ein fest gewonnenes Gleichgewicht der idealen und der selbstischen Momente.

Nur auf dem Boden fester großer eingelebter Staatsformen entsteht eine
solche Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft mag in einer großen Hauptstadt
ihren Sammelpunkt finden, aber ein und dasselbe Nervengeflecht muß über
ein großes Reich sich verbreiten, wenn Tiefe und Reichthum des gesellschaft¬
lichen Lebens entstehen sollen. Bei uns war der Staat unfertig, wie er es
zum Theil noch in dieser Stunde ist, wir konnten also keine Gesellschaft haben,
die sich aus den Wurzeln des Staates frei und vielverzweigt und doch nach
einem und demselben Typus emporhebt. Denn auf die Einheit des Typus
kommt es an, wo eine wirkliche Gesellschaft entstehen soll, zu welcher weit¬
verbreitet Fühlfäden gehören, an die sich von den verschiedensten Enden die Wir¬
kungen anknüpfen. Es gibt ein russisches Lustspiel „der Revisor", das von
einem Ende des ungeheuren Reiches zum anderen genossen wird, wo es eine
russische Gesellschaft giebt. Der Stoff ist der Berührung des Beamtenle¬
bens mit der Gesellschaft entnommen. Nun nehme man das verhältnißmäßig
kleine Deutschland. Hier kann es kein Lustspiel geben, das die guten oder
schlechten Seiten des Beamtentums in seiner Berührung mit dem Volksleben
schildert. Ueberall ist die Beamtenhierarchie eine andere, überall sind die
Cvmpetenzen andere, überall bekommt das Verhältniß zur Gesellschaft einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/40>, abgerufen am 03.07.2024.