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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Z)le neueste Stellung Württembergs zur deutschen
Aechtseinljeit.

Was wir neulich nur angedeutet, hat sich schnell verwirklicht. Wiederum
stehen wir vor einer jener überraschenden Frontveränderungen, welche Herrn
von Mittnacht mehr und mehr als den unberechenbarsten der deutschen Staats¬
männer erscheinen lassen*). Am 12. Dezember 1871 hatte er im württem-
bergischen Ständehaus, am 9. April 1872 im Bundesrath zu Berlin erklärt,
..die württembergische Staatsregierung werde angemessenen Erstreckungen der
Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung im einzelnen Fall nicht engegentreten,
müsse aber diesen Weg jedesmaliger Wahrung der für Verfassungsänderungen
durch Artikel 78 der Reichsverfassung bestimmten Form für den allein annehm¬
baren erklären". Noch schärfer hatte er sich hierauf am 29. Mai v. I. über
seine Stellung zum Laökerschen Antrag und über die Vorberathung der Reichs¬
gesetzesentwürfe ausgesprochen. Ja, auch im letzten Dezember auf den Ber¬
liner Ministerconferenzen hatte er sich dem bayerischen Justizminister Fäustle
angeschlossen, ein oberstes Reichsgericht abgelehnt und sich für einen bloßen
Reichsrechtshof erklärt. Durfte man sich hiernach wundern, daß der Führer
unserer schwäbischen Volkspartei in der Kammer nunmehr den passenden
Augenblick gekommen glaubte, um dem Laskerschen Antrag und der Einheit
der deutschen Gerichtsorganisation von Württemberg aus durch seine Jnter¬
pellation den letzten entscheidenden Schlag zu versetzen?

War es doch auch in Stuttgart bekannt, daß der Director des obersten
Landesgerichts und die rechte Hand des Ministers sich vor einigen Monaten
im Staatsanzeiger aufs Entschiedenste gegen diese Unisicationsbestrebungen
ausgesprochen, und daß Herr von Mittnacht neuerdings drei juristischen
Sachverständigen -- nach seiner Wahl -- Gutachten abgefordert und diese
sich in abfälliger Weise über den Laskerschen Antrag geäußert hatten.

Und doch hatte sich in dem kurzen Zeitraum von wenigen Wochen seit
den Berliner Conferenzen die Situation gänzlich geändert. Herr von Mitt¬
nacht, der sein Verhalten stets den Zeitumständen anzupassen weiß, hatte
schon vor einiger Zeit sich den Ständen gegenüber ausgesprochen, daß wenn
einmal die öffentliche Meinung in Deutschland und das Votum des Reichs¬
tags sich für eine Gesetzesvorlage ausspreche und die preußische Regierung
sich auf die Seite des Reichstags stelle, es den Mittelstaaten für die Dauer
unmöglich sei, aus formellen Gründen auf dem Widerstand zu beharren.



') In unserm neulichen Citat aus Tacitus, S. 188 unten, hat der Setzer aus suvvswor
sinnentstellend suasor gemacht!
Z)le neueste Stellung Württembergs zur deutschen
Aechtseinljeit.

Was wir neulich nur angedeutet, hat sich schnell verwirklicht. Wiederum
stehen wir vor einer jener überraschenden Frontveränderungen, welche Herrn
von Mittnacht mehr und mehr als den unberechenbarsten der deutschen Staats¬
männer erscheinen lassen*). Am 12. Dezember 1871 hatte er im württem-
bergischen Ständehaus, am 9. April 1872 im Bundesrath zu Berlin erklärt,
..die württembergische Staatsregierung werde angemessenen Erstreckungen der
Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung im einzelnen Fall nicht engegentreten,
müsse aber diesen Weg jedesmaliger Wahrung der für Verfassungsänderungen
durch Artikel 78 der Reichsverfassung bestimmten Form für den allein annehm¬
baren erklären". Noch schärfer hatte er sich hierauf am 29. Mai v. I. über
seine Stellung zum Laökerschen Antrag und über die Vorberathung der Reichs¬
gesetzesentwürfe ausgesprochen. Ja, auch im letzten Dezember auf den Ber¬
liner Ministerconferenzen hatte er sich dem bayerischen Justizminister Fäustle
angeschlossen, ein oberstes Reichsgericht abgelehnt und sich für einen bloßen
Reichsrechtshof erklärt. Durfte man sich hiernach wundern, daß der Führer
unserer schwäbischen Volkspartei in der Kammer nunmehr den passenden
Augenblick gekommen glaubte, um dem Laskerschen Antrag und der Einheit
der deutschen Gerichtsorganisation von Württemberg aus durch seine Jnter¬
pellation den letzten entscheidenden Schlag zu versetzen?

War es doch auch in Stuttgart bekannt, daß der Director des obersten
Landesgerichts und die rechte Hand des Ministers sich vor einigen Monaten
im Staatsanzeiger aufs Entschiedenste gegen diese Unisicationsbestrebungen
ausgesprochen, und daß Herr von Mittnacht neuerdings drei juristischen
Sachverständigen — nach seiner Wahl — Gutachten abgefordert und diese
sich in abfälliger Weise über den Laskerschen Antrag geäußert hatten.

Und doch hatte sich in dem kurzen Zeitraum von wenigen Wochen seit
den Berliner Conferenzen die Situation gänzlich geändert. Herr von Mitt¬
nacht, der sein Verhalten stets den Zeitumständen anzupassen weiß, hatte
schon vor einiger Zeit sich den Ständen gegenüber ausgesprochen, daß wenn
einmal die öffentliche Meinung in Deutschland und das Votum des Reichs¬
tags sich für eine Gesetzesvorlage ausspreche und die preußische Regierung
sich auf die Seite des Reichstags stelle, es den Mittelstaaten für die Dauer
unmöglich sei, aus formellen Gründen auf dem Widerstand zu beharren.



') In unserm neulichen Citat aus Tacitus, S. 188 unten, hat der Setzer aus suvvswor
sinnentstellend suasor gemacht!
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[0315] Z)le neueste Stellung Württembergs zur deutschen Aechtseinljeit. Was wir neulich nur angedeutet, hat sich schnell verwirklicht. Wiederum stehen wir vor einer jener überraschenden Frontveränderungen, welche Herrn von Mittnacht mehr und mehr als den unberechenbarsten der deutschen Staats¬ männer erscheinen lassen*). Am 12. Dezember 1871 hatte er im württem- bergischen Ständehaus, am 9. April 1872 im Bundesrath zu Berlin erklärt, ..die württembergische Staatsregierung werde angemessenen Erstreckungen der Zuständigkeit der Reichsgesetzgebung im einzelnen Fall nicht engegentreten, müsse aber diesen Weg jedesmaliger Wahrung der für Verfassungsänderungen durch Artikel 78 der Reichsverfassung bestimmten Form für den allein annehm¬ baren erklären". Noch schärfer hatte er sich hierauf am 29. Mai v. I. über seine Stellung zum Laökerschen Antrag und über die Vorberathung der Reichs¬ gesetzesentwürfe ausgesprochen. Ja, auch im letzten Dezember auf den Ber¬ liner Ministerconferenzen hatte er sich dem bayerischen Justizminister Fäustle angeschlossen, ein oberstes Reichsgericht abgelehnt und sich für einen bloßen Reichsrechtshof erklärt. Durfte man sich hiernach wundern, daß der Führer unserer schwäbischen Volkspartei in der Kammer nunmehr den passenden Augenblick gekommen glaubte, um dem Laskerschen Antrag und der Einheit der deutschen Gerichtsorganisation von Württemberg aus durch seine Jnter¬ pellation den letzten entscheidenden Schlag zu versetzen? War es doch auch in Stuttgart bekannt, daß der Director des obersten Landesgerichts und die rechte Hand des Ministers sich vor einigen Monaten im Staatsanzeiger aufs Entschiedenste gegen diese Unisicationsbestrebungen ausgesprochen, und daß Herr von Mittnacht neuerdings drei juristischen Sachverständigen — nach seiner Wahl — Gutachten abgefordert und diese sich in abfälliger Weise über den Laskerschen Antrag geäußert hatten. Und doch hatte sich in dem kurzen Zeitraum von wenigen Wochen seit den Berliner Conferenzen die Situation gänzlich geändert. Herr von Mitt¬ nacht, der sein Verhalten stets den Zeitumständen anzupassen weiß, hatte schon vor einiger Zeit sich den Ständen gegenüber ausgesprochen, daß wenn einmal die öffentliche Meinung in Deutschland und das Votum des Reichs¬ tags sich für eine Gesetzesvorlage ausspreche und die preußische Regierung sich auf die Seite des Reichstags stelle, es den Mittelstaaten für die Dauer unmöglich sei, aus formellen Gründen auf dem Widerstand zu beharren. ') In unserm neulichen Citat aus Tacitus, S. 188 unten, hat der Setzer aus suvvswor sinnentstellend suasor gemacht!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/315>, abgerufen am 24.08.2024.