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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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uns Emanuel Sa, "was man nach einer probabeln Meinung für erlaubt hält,
wenn auch das Gegentheil vor dem Gewissen sicher ist." "Es ist gestattet,
nach einer minder probabeln Meinung zu handeln, obwohl sie weniger sicher,
ist," lesen wir bei Filliuceius. Der berühmte Escobar schreibt: "Darf
ich einer minder probabeln Ansicht mit Hintansetzung der probableren folgen?
Allerdings. Ich darf sogar meine sichere Meinung aufgeben und der eines
Andern nachhandeln, wenn diese nur ebenfalls wahrscheinlich ist" (als die eines
(loetor giÄvis aus der Autoritätengalerie der Jesuiten). "Bittet ein Beich¬
tender", so sagt derselbe Weise an einer andern Stelle, "den Beichtvater, ihm
die wahrscheinlichere von zwei Meinungen zu nennen, so muß er ihm die sagen,
der er selbst folgt. Ist jedoch blos von praktischer Verpflichtung die Rede,
so kann er ihm auch die weniger wahrscheinliche Meinung zur Richtschnur an-
rathen. Ja er wird sich um so mehr zum Rathgeber empfehlen, je öfter er
das auräth, was leichter und mit geringerem Nachtheil geleistet werden kann."

Das sind allerdings, wie man zugeben wird, goldne Regeln, mit denen
man leicht über göttliches Gesetz und menschliches Gewissen hinwegschlüpft.
Freilich steht in der Bibel nichts davon. Aber die Jesuiten beschenkten jja
die Welt mit einem neuen Evangelium und einer Reihe neuer Apostel und
Kirchenväter. Vergleicht doch Escobar seine Moraltheologie in der Vorrede
mit dem siebenfach gesiegelten Buch in der Apokalypse und widmet er es doch
den vier Thieren derselben, welche ihm seine Ordensbrüder Suarez, Vasquez,
Molina und Valencia sind, und sieht er sich dabei doch von den vierundzwanzig
Aeltesten umstanden, unter denen er die vierundzwanzig jesuitischen Casuisten
versteht, aus welchen er sein Werk zusammengeschrieben hat.*)

Aber, so sagt man uns, der Probabilismus der Jesuiten war doch ei¬
gentlich blos speculativer Natur, mehr Schulübung als Lebensregel.

Wer das behauptet, der hat nie einen ihrer Casuisten gelesen. Wir
könnten mit vielen Hunderten von Beispielen darthun, daß diese Casuisten
nicht für die Schule, sondern für das Leben, für die Praxis geschrieben haben.
Indeß wird ein einziges Beispiel genügen.

Escobar fragt: "Darf jemand, der eine Ohrfeige erhalten, den, welcher
sie ihm gegeben, verfolgen oder ihn ermorden? Einige antworten: nein, weil
das Rache und nicht Vertheidigung wäre. Lessius dagegen sagt: es sei in
der Theorie erlaubt, aber für die Praxis dürfe man nicht dazu rathen (nicht
etwa, weil man dadurch das Verbot: Du sollst nicht tödten! verletzt; das
fällt einem Jesuiten nicht im Traume ein, sondern) wegen der Gefahr des



") Wir schöpfen das Folgende aus Ellcndorf "Moral und Politik der Jesuiten" (Darm¬
stadt, 1840) einem selten gewordenen Buche, welches durchweg auf gründlichen Studium der
Jesuitenliteratur fußt und eine wahre Fundgrube für solche Erörterungen ist.

uns Emanuel Sa, „was man nach einer probabeln Meinung für erlaubt hält,
wenn auch das Gegentheil vor dem Gewissen sicher ist." „Es ist gestattet,
nach einer minder probabeln Meinung zu handeln, obwohl sie weniger sicher,
ist," lesen wir bei Filliuceius. Der berühmte Escobar schreibt: „Darf
ich einer minder probabeln Ansicht mit Hintansetzung der probableren folgen?
Allerdings. Ich darf sogar meine sichere Meinung aufgeben und der eines
Andern nachhandeln, wenn diese nur ebenfalls wahrscheinlich ist" (als die eines
(loetor giÄvis aus der Autoritätengalerie der Jesuiten). „Bittet ein Beich¬
tender", so sagt derselbe Weise an einer andern Stelle, „den Beichtvater, ihm
die wahrscheinlichere von zwei Meinungen zu nennen, so muß er ihm die sagen,
der er selbst folgt. Ist jedoch blos von praktischer Verpflichtung die Rede,
so kann er ihm auch die weniger wahrscheinliche Meinung zur Richtschnur an-
rathen. Ja er wird sich um so mehr zum Rathgeber empfehlen, je öfter er
das auräth, was leichter und mit geringerem Nachtheil geleistet werden kann."

Das sind allerdings, wie man zugeben wird, goldne Regeln, mit denen
man leicht über göttliches Gesetz und menschliches Gewissen hinwegschlüpft.
Freilich steht in der Bibel nichts davon. Aber die Jesuiten beschenkten jja
die Welt mit einem neuen Evangelium und einer Reihe neuer Apostel und
Kirchenväter. Vergleicht doch Escobar seine Moraltheologie in der Vorrede
mit dem siebenfach gesiegelten Buch in der Apokalypse und widmet er es doch
den vier Thieren derselben, welche ihm seine Ordensbrüder Suarez, Vasquez,
Molina und Valencia sind, und sieht er sich dabei doch von den vierundzwanzig
Aeltesten umstanden, unter denen er die vierundzwanzig jesuitischen Casuisten
versteht, aus welchen er sein Werk zusammengeschrieben hat.*)

Aber, so sagt man uns, der Probabilismus der Jesuiten war doch ei¬
gentlich blos speculativer Natur, mehr Schulübung als Lebensregel.

Wer das behauptet, der hat nie einen ihrer Casuisten gelesen. Wir
könnten mit vielen Hunderten von Beispielen darthun, daß diese Casuisten
nicht für die Schule, sondern für das Leben, für die Praxis geschrieben haben.
Indeß wird ein einziges Beispiel genügen.

Escobar fragt: „Darf jemand, der eine Ohrfeige erhalten, den, welcher
sie ihm gegeben, verfolgen oder ihn ermorden? Einige antworten: nein, weil
das Rache und nicht Vertheidigung wäre. Lessius dagegen sagt: es sei in
der Theorie erlaubt, aber für die Praxis dürfe man nicht dazu rathen (nicht
etwa, weil man dadurch das Verbot: Du sollst nicht tödten! verletzt; das
fällt einem Jesuiten nicht im Traume ein, sondern) wegen der Gefahr des



") Wir schöpfen das Folgende aus Ellcndorf „Moral und Politik der Jesuiten" (Darm¬
stadt, 1840) einem selten gewordenen Buche, welches durchweg auf gründlichen Studium der
Jesuitenliteratur fußt und eine wahre Fundgrube für solche Erörterungen ist.
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[0186] uns Emanuel Sa, „was man nach einer probabeln Meinung für erlaubt hält, wenn auch das Gegentheil vor dem Gewissen sicher ist." „Es ist gestattet, nach einer minder probabeln Meinung zu handeln, obwohl sie weniger sicher, ist," lesen wir bei Filliuceius. Der berühmte Escobar schreibt: „Darf ich einer minder probabeln Ansicht mit Hintansetzung der probableren folgen? Allerdings. Ich darf sogar meine sichere Meinung aufgeben und der eines Andern nachhandeln, wenn diese nur ebenfalls wahrscheinlich ist" (als die eines (loetor giÄvis aus der Autoritätengalerie der Jesuiten). „Bittet ein Beich¬ tender", so sagt derselbe Weise an einer andern Stelle, „den Beichtvater, ihm die wahrscheinlichere von zwei Meinungen zu nennen, so muß er ihm die sagen, der er selbst folgt. Ist jedoch blos von praktischer Verpflichtung die Rede, so kann er ihm auch die weniger wahrscheinliche Meinung zur Richtschnur an- rathen. Ja er wird sich um so mehr zum Rathgeber empfehlen, je öfter er das auräth, was leichter und mit geringerem Nachtheil geleistet werden kann." Das sind allerdings, wie man zugeben wird, goldne Regeln, mit denen man leicht über göttliches Gesetz und menschliches Gewissen hinwegschlüpft. Freilich steht in der Bibel nichts davon. Aber die Jesuiten beschenkten jja die Welt mit einem neuen Evangelium und einer Reihe neuer Apostel und Kirchenväter. Vergleicht doch Escobar seine Moraltheologie in der Vorrede mit dem siebenfach gesiegelten Buch in der Apokalypse und widmet er es doch den vier Thieren derselben, welche ihm seine Ordensbrüder Suarez, Vasquez, Molina und Valencia sind, und sieht er sich dabei doch von den vierundzwanzig Aeltesten umstanden, unter denen er die vierundzwanzig jesuitischen Casuisten versteht, aus welchen er sein Werk zusammengeschrieben hat.*) Aber, so sagt man uns, der Probabilismus der Jesuiten war doch ei¬ gentlich blos speculativer Natur, mehr Schulübung als Lebensregel. Wer das behauptet, der hat nie einen ihrer Casuisten gelesen. Wir könnten mit vielen Hunderten von Beispielen darthun, daß diese Casuisten nicht für die Schule, sondern für das Leben, für die Praxis geschrieben haben. Indeß wird ein einziges Beispiel genügen. Escobar fragt: „Darf jemand, der eine Ohrfeige erhalten, den, welcher sie ihm gegeben, verfolgen oder ihn ermorden? Einige antworten: nein, weil das Rache und nicht Vertheidigung wäre. Lessius dagegen sagt: es sei in der Theorie erlaubt, aber für die Praxis dürfe man nicht dazu rathen (nicht etwa, weil man dadurch das Verbot: Du sollst nicht tödten! verletzt; das fällt einem Jesuiten nicht im Traume ein, sondern) wegen der Gefahr des ") Wir schöpfen das Folgende aus Ellcndorf „Moral und Politik der Jesuiten" (Darm¬ stadt, 1840) einem selten gewordenen Buche, welches durchweg auf gründlichen Studium der Jesuitenliteratur fußt und eine wahre Fundgrube für solche Erörterungen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/186>, abgerufen am 24.08.2024.