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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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mung bestehen könnten. Das gab denn solche Monstra der Ethik, wie wir
sie weiterhin mittheilen werden. Alles, was Treue und Glauben heißt, wurde
einer zersetzenden Gewissensdialectik preisgegeben, die für jeden einzelnen Fall
eine besondere Regel und für jede Regel eine Ausnahme wußte.

Dieses schwankende Wesen der jesuitischen Moral sprach sich am deutlich¬
sten in der Lehre des sogenannten Probabilismus aus, den wir am Besten
als eine moralische Zweifelsucht bezeichnen können, welche mit Verzweifelung
an aller sittlichen Wahrheit enden muß. Der jesuitische Probabilismus nimmt
an, daß es eigentlich gar keine schlechthin gültige sittliche Wahrheit giebt,
und daß wir es in der Erkenntniß des Sittlichen nur bis zur Wahrscheinlichkeit
bringen. Und diese Wahrscheinlichkeit wird einzig aus den Meinungen ma߬
gebender Moralisten gewonnen. Von einem kategorischen Imperativ haben
die Jesuiten keine Ahnung. Jede Handlungsweise, die den Ausspruch eines
angesehenen Lehrers, eines cloetor Zravis et produs für sich hat, ist wahr¬
scheinlich gut, und widerspricht ihr auch das Wort eines andern angesehenen
Lehrers, so braucht man sie doch nicht als falsch aufzugeben, sondern man
kann zwischen beiden Autoritäten wählen und sicher sein, nicht ganz schlecht
zu wählen.

Der Probabilismus war eine Anbequemung an die schlechten Sitten der
Zeit, die man sich damit günstig stimmte. Er, die rsstrietio wsntalis und
die famose wetlioäus äinMuäa-z intentionis machten die Jesuiten zu sehr be¬
haglichen Beichtvätern und Scelenführern. Sie wurden zu Lieblingen aller
Stände, die von ihnen lernten, daß man allen seinen Gelüsten stöhnen und
doch auf der directen Straße zum Himmel bleiben könne, und gewannen da¬
mit Macht und Einfluß wie kein Orden vor ihnen. Andererseits aber hängt
jenes sich Stützen auf die äußere Autorität, selbst da, wo sie mit sich selbst
im Widerspruch ist, wieder genau zusammen mit dem ganzen hierarchisch-ser¬
vilen Geiste des Jesuitismus. Der blinde äußere Gehorsam gegen die
menschliche Autorität ist ja das oberste Princip der jesuitischen Moral, und
aus dieser konnte sich nie eine selbständige Gesinnung entwickeln.

Ein paar Beispiele mögen klarer machen, was es mit dem jesuitischen
Probabilismus für eine Bewandtniß hat. Hören wir den gelehrten Diana
über einen zweifelhaften Fall. "Hier sind", sagt er, "Pontius und Sanchez
ganz entgegengesetzter Ansicht. Aber weil beide sehr gelehrte Männer gewesen
sind, macht jeder von ihnen wenigstens aus diesem Grunde seine Meinung
wahrscheinlich und für die Praxis sicher." Welcher von den beiden probabeln
Meinungen aber werden wir den Vorzug geben? Zerbrecht euch den Kopf
nicht darüber, antworten uns eine ganze Anzahl hochangesehener Jesuiten¬
pater, und folgt getrost der, welche euch am besten ins Geschäft paßt. Vom
Gewissen braucht ihr keine Notiz zu nehmen. "Man kann thun", belehrt


GmizboK" 187?. I. 23

mung bestehen könnten. Das gab denn solche Monstra der Ethik, wie wir
sie weiterhin mittheilen werden. Alles, was Treue und Glauben heißt, wurde
einer zersetzenden Gewissensdialectik preisgegeben, die für jeden einzelnen Fall
eine besondere Regel und für jede Regel eine Ausnahme wußte.

Dieses schwankende Wesen der jesuitischen Moral sprach sich am deutlich¬
sten in der Lehre des sogenannten Probabilismus aus, den wir am Besten
als eine moralische Zweifelsucht bezeichnen können, welche mit Verzweifelung
an aller sittlichen Wahrheit enden muß. Der jesuitische Probabilismus nimmt
an, daß es eigentlich gar keine schlechthin gültige sittliche Wahrheit giebt,
und daß wir es in der Erkenntniß des Sittlichen nur bis zur Wahrscheinlichkeit
bringen. Und diese Wahrscheinlichkeit wird einzig aus den Meinungen ma߬
gebender Moralisten gewonnen. Von einem kategorischen Imperativ haben
die Jesuiten keine Ahnung. Jede Handlungsweise, die den Ausspruch eines
angesehenen Lehrers, eines cloetor Zravis et produs für sich hat, ist wahr¬
scheinlich gut, und widerspricht ihr auch das Wort eines andern angesehenen
Lehrers, so braucht man sie doch nicht als falsch aufzugeben, sondern man
kann zwischen beiden Autoritäten wählen und sicher sein, nicht ganz schlecht
zu wählen.

Der Probabilismus war eine Anbequemung an die schlechten Sitten der
Zeit, die man sich damit günstig stimmte. Er, die rsstrietio wsntalis und
die famose wetlioäus äinMuäa-z intentionis machten die Jesuiten zu sehr be¬
haglichen Beichtvätern und Scelenführern. Sie wurden zu Lieblingen aller
Stände, die von ihnen lernten, daß man allen seinen Gelüsten stöhnen und
doch auf der directen Straße zum Himmel bleiben könne, und gewannen da¬
mit Macht und Einfluß wie kein Orden vor ihnen. Andererseits aber hängt
jenes sich Stützen auf die äußere Autorität, selbst da, wo sie mit sich selbst
im Widerspruch ist, wieder genau zusammen mit dem ganzen hierarchisch-ser¬
vilen Geiste des Jesuitismus. Der blinde äußere Gehorsam gegen die
menschliche Autorität ist ja das oberste Princip der jesuitischen Moral, und
aus dieser konnte sich nie eine selbständige Gesinnung entwickeln.

Ein paar Beispiele mögen klarer machen, was es mit dem jesuitischen
Probabilismus für eine Bewandtniß hat. Hören wir den gelehrten Diana
über einen zweifelhaften Fall. „Hier sind", sagt er, „Pontius und Sanchez
ganz entgegengesetzter Ansicht. Aber weil beide sehr gelehrte Männer gewesen
sind, macht jeder von ihnen wenigstens aus diesem Grunde seine Meinung
wahrscheinlich und für die Praxis sicher." Welcher von den beiden probabeln
Meinungen aber werden wir den Vorzug geben? Zerbrecht euch den Kopf
nicht darüber, antworten uns eine ganze Anzahl hochangesehener Jesuiten¬
pater, und folgt getrost der, welche euch am besten ins Geschäft paßt. Vom
Gewissen braucht ihr keine Notiz zu nehmen. „Man kann thun", belehrt


GmizboK» 187?. I. 23
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/185>, abgerufen am 24.08.2024.